Ziele des Terrors:Bin Ladens Utopie

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Al-Qaida strebt nach dem eigenen Gottesstaat, dem Kalifat. Doch bin Laden mag es gelungen sein, die westliche Welt in Angst zu versetzen, und ständig neue Kämpfer zu werben. Das Ziel, die Massen einzubeziehen, haben die Extremisten jedoch nicht erreicht.

Nicolas Richter

Am Dienstag hat George W. Bush in die Gruselkiste gegriffen. Mitten im weltweiten Gedenken an den 11. September malte der US-Präsident ein neues Schreckensgemälde über die Zukunftspläne seiner Feinde, der Islamisten al-Qaidas.

Osama bin Laden (Foto: Foto: AP)

"Sie wollen eine gewalttätige politische Utopie im Mittleren Osten durchsetzen", sagte Bush, "sie würden es Kalifat nennen". "Dieses Kalifat wäre ein totalitäres islamisches Reich, das alle gegenwärtigen und früheren muslimischen Länder umfassen würde - von Europa bis Nordafrika, den Mittleren Osten und Südostasien. Wir wissen das, weil al-Qaida es uns gesagt hat."

Osama bin Laden selbst habe erklärt, "dass der 11. September nur der erste Schritt war, hin zur Einheit der Muslime und zur Gründung des Kalifats".

Tatsächlich wäre es erstaunlich, wenn sich die für ihre Maßlosigkeit berüchtigte al-Qaida nur damit begnügen würde, den spektakulärsten Terrorangriff der Geschichte geführt zu haben. Das Kalifat, ein nach dem Geschmack der Islamisten geformter Gottesstaat im Orient, ist seit langem das Ziel der Organisation.

Aiman al-Sawahiri, Vordenker al-Qaidas und Stellvertreter bin Ladens, hat es in einem seiner Pamphlete so geschildert: "So wie der Sieg von Armeen nur effektiv ist, wenn die Infanterie den Boden besetzt, so wird auch der Sieg der islamischen Bewegung des Dschihad nur Wirklichkeit mit dem Besitz einer islamischen Basis in der muslimischen Welt."

Bush erweckt den Eindruck, als nehme er dieses Szenario sehr ernst. Im Wahlkampf kommt es ihm jedenfalls zugute, dass er das US-Engagement im Irak zur zentralen Schlacht gegen die Entstehung des Kalifats erklären kann. Fünf Jahre nach dem 11. September aber ist es fraglich, ob die Führer al-Qaidas ihre Vision je werden umsetzen können.

Al-Qaida mag von einer Organisation zum globalen Netzwerk oder gar zur Bewegung gewachsen sein, die Terroristen mögen auf der ganzen Welt zugeschlagen haben - der Traum vom Kalifat aber klingt selbst angesichts der chaotischen Verhältnisse im Irak nach maßloser Überschätzung der eigenen Möglichkeiten.

Bin Laden und Sawahiri sind geprägt von dem Hass auf die Regime in ihren Heimatstaaten. Bin Laden will die Königsfamilie in Saudi-Arabien von der Macht vertreiben, Sawahiri versuchte sich jahrelang erfolglos am Umsturz in Ägypten.

Ihr Kampf gilt allerdings nicht nur dem nahen Feind, sondern auch dem fernen. Er gilt der "Koalition" westlicher Kräfte, der die USA, Israel, aber auch Russland angehören, und der nun eine globale "fundamentalistische Allianz" dschihadistischer Bewegungen gegenübersteht.

So schreibt es Sawahiri in seinem vielbeachteten Pamphlet "Ritter unter dem Banner des Propheten", das er Ende 2001 veröffentlichte. Sawahiri beschreibt darin das Phänomen der vergangenen Jahre: "Junge muslimische Kämpfer verlassen ihre Familien und ihre Länder, sie vernachlässigen das Geld, geben ihr Studium oder ihren Beruf auf, um die Schlachtfelder des Heiligen Krieges aufzusuchen."

Die zahllosen Anschläge der vergangenen Jahre in aller Welt zeugen von der "Aufbruchstimmung", die Sawahiri beschwört - "eine neue Geisteshaltung, wonach es keine andere Lösung gibt als den Dschihad". Ob die Täter nun scheinbar integrierte Muslime in Großbritannien sind, emsige Studenten aus Hamburg oder bekehrte Kleinkriminelle aus Spanien - die Botschaft al-Qaidas wirkt und sie ist nicht mehr einzufangen.

Bin Laden und Sawahiri sind trotz der größten Fahndung in der Geschichte noch immer frei. Selbst wenn es gelingen sollte, sie zu fassen: Ihre Idee spricht Tausende an. Der 11. September war somit eine Initialzündung, die allen gewaltbereiten Muslimen die Botschaft vermittelte: Kämpft überall und mit allen Mitteln, weil euch Juden und Christen ohnehin nur mit Verachtung strafen.

Al-Qaida mag es gelungen sein, die westliche Welt in Angst, zumindest aber in ständige Alarmbereitschaft zu versetzen, und ständig neue Kämpfer zu werben. Das Ziel aber, die Umma, die islamische Gemeinschaft, mithin: die Massen einzubeziehen, haben die Extremisten nicht erreicht. In keinem Land ist die Bewegung so stark, dass sie einen Umsturz organisieren könnte, selbst im Irak nicht, wo zu den Aufständischen auch ganz andere Kräfte gehören als die Islamisten.

Das unterscheidet die Dschihadisten von den etablierteren Kräften wie der palästinensischen Hamas oder der libanesischen Hisbollah: Diese üben dauerhafte Macht und nicht nur punktuellen Terror aus - sie treten zwar ebenfalls durch Gewalt in Erscheinung, aber Einfluss gewinnen sie durch soziale Dienstleistungen und ein politisches Programm, das sich den Wählern stellt und sie überzeugt.

Im Gegensatz zu der minutiös geplanten Operation am 11. September 2001 ist nicht zu erkennen, wie die Dschihadisten einen strategischen, militärischen Sieg gegen eine der ihnen feindlich gesinnten Regierungen organisieren können. Das liegt zum einen an der Zersplitterung al-Qaidas, die höchstens noch mit lose zusammenhängenden Zellen operiert, zweitens aber auch an der Vielzahl der Gegner, die sich die Islamisten ausgesucht haben.

Dazu gehört die gesamte westliche Welt sowie praktisch alle Regime im Nahen Osten. Selbst im Irak ist nur schwer zu erkennen, wie ein Kalifat oder Staat gegründet werden soll, der sich gegen den Willen und die Interessen nicht nur säkularer Kräfte, sondern auch gegen die schiitische Glaubensmehrheit im Lande richten würde. Vereinzelte Anschläge in Ägypten oder Saudi-Arabien haben die dortigen Regime eher stabilisiert - sie geben den Herrschenden einen Vorwand für noch härtere Repression.

Doch der Traum vom Kalifat hat Bestand. Bin Laden beschwört diese Idee immer wieder - er weiß, dass er seinen Kämpfern oder "Märtyrern" ein Ziel bieten muss, eine Vision, die eint und zum Kämpfen motiviert. Unlängst veröffentlichte der jordanische Autor Fuad Hussein unter Berufung auf Qaida-Kreise eine Art Agenda.

Die erste Phase liegt um den 11. September 2001, der Autor nennt sie das "Aufwachen". Die letzte und siebte Phase, auch "Sieg" genannt, soll demnach im Jahr 2020 abgeschlossen sein und besteht in der festen Etablierung des Kalifats. Dazwischen liegen Angriffe auf Syrien, Israel und die Türkei, sowie der Sturz nahöstlicher Regime.

Bush hat in seiner jüngsten Rede zum "globalen Krieg gegen den Terror" den Siegesphantasien al-Qaidas große Bedeutung geschenkt. Doch die besseren Kenner der islamischen Welt sehen al-Qaida bereits an ihren ehrgeizigen Zielen gescheitert. Losgelöst von den alltäglichen Problemen der muslimischen Völker spiele al-Qaida ein "apokalyptisches Videospiel", befindet der französische Experte Olivier Roy.

Der Kurs ist umstritten, der vom irakischen Terrorfürsten Abu Mussab al-Sarkawi proklamierte Krieg gegen die Schiiten drohte al-Qaida zu spalten, gleichzeitig entfachten seine Anschläge gegen Muslime in Jordanien Empörung auch unter Anhängern.

Bin Ladens Helfer Sawahiri hat sich viele Gedanken darüber gemacht, wie er die Massen mobilisieren kann. Die Gefahr des Scheiterns hatte er dabei klar vor Augen: "Wenn sich die gelungenen Operationen gegen die Feinde des Islam nicht in den Plan für einen islamischen Staat einfügen, werden sie bei aller Größe bloße Störmanöver bleiben, die bald überkommen und vergessen sein werden." Trotz aller Wucht der New Yorker Anschläge und der Massenmorde seither könnte es genau so kommen.

© SZ vom 8.9.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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