Zerfalls- und Staatenbildungskriege:Als Europa Ort von Höllenorgien war

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"Genozidale Logik": Das brennende Smyrna (heute Izmir) 1922. (Foto: Getty Images)

1918 endete der Erste Weltkrieg - doch das Schlachten ging weiter: Europa wurde zur gewalttätigsten Region der Welt. Historiker Robert Gerwarth dokumentiert die wenig beachtete Phase.

Rezension von Jens Bisky

Nach dem Waffenstillstand begann 1918 eine neue Ära des Schlachtens, der Kriege, Revolutionen, Pogrome, Vertreibungen. Während in den Pariser Vorortverträgen die Satzungen des erwünschten Friedens verordnet wurden, war Europa nach dem Urteil des Historikers Robert Gerwarth "die mit Abstand gewalttätigste Region der Welt".

Mehr als vier Millionen Menschen starben in den bewaffneten Konflikten Nachkriegseuropas, aber diese Toten haben längst nicht so viel Aufmerksamkeit gefunden wie die Schlachten des Ersten Weltkriegs. Winston Churchill kommentierte damals harsch und herablassend: "Wenn der Krieg der Giganten vorbei ist, beginnen die Kriege der Pygmäen."

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Die "Pygmäen", das waren vor allem die Staaten, die aus den zerfallenden Großreichen hervorgingen, dem Habsburgischen, dem Osmanischen wie dem Zarenreich. Von deren Untergang und der blutigen Entstehung neuer, um Homogenität kämpfender Vaterländer handelt Robert Gewarths Buch "Die Besiegten". Unter dem Titel "The Vanquished. Why the First World War Failed to End" ist es im vergangenen Jahr in London erschienen.

Dieses gesamteuropäische Panorama des Umbruchs, Kriegsende und Kriegsbeginn in einem, besticht zunächst durch Kürze. 340 Seiten Text sind nicht zu viel für die Jahre zwischen Lenins legendärer Reise nach Russland und dem Frieden von Lausanne zur Beendigung des Griechisch-Türkischen Krieges.

Gerwarth, der in Dublin lehrt, verknüpft geschickt Detailschilderungen und Porträts der Handelnden mit Analyse. Er will zeigen, dass die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts ohne genaue Kenntnis der Zerfalls- und Staatenbildungskriege nach dem Ende des Großen Krieges nicht zu verstehen ist.

Die schockierende Verrohung der Nachkriegsgesellschaften sei nicht oder doch nicht in erster Linie eine Folge der Fronterfahrungen in den Jahren 1914 - 1918. So hatte George Mosse die Brutalisierung der deutschen Gesellschaft erklärt. Folgenreicher aber war, so Gerwarth, die "Art und Weise, wie dieser Krieg für die Verliererstaaten zu Ende ging: mit Niederlagen, dem Zusammenbruch ihrer Großreiche und Revolutionswirren."

Dies zu sagen, bedeutet nicht unbedingt, die alten Vielvölkerreiche zu idealisieren, wie es bereits in den Zwanzigerjahren Mode wurde. Einzugestehen wäre allerdings gegen die schwarzen Legenden der Nationalisten, dass der Zerfall der Reiche wie die Revolutionen nicht unvermeidlich waren und hauptsächlich durch die Niederlagen im Krieg vorangetrieben wurden.

Neue Staaten entstanden: Finnland, Estland, Litauen, Lettland, Polen, die Tschechoslowakei, Deutsch-Österreich, Ungarn, Jugoslawien, die Türkei; im Nahen Osten wurden weitere von den Kolonialmächten "erfunden".

Nicht nur bezwingen, sondern vernichten

Gerwarth unterscheidet drei Konflikttypen. Zwischenstaatliche Kriege wie der polnisch-sowjetische, der griechisch-türkische oder der Einmarsch der Rumänen in Ungarn wurden oft geführt durch gerade gebildete nationale Streitkräfte.

Bürgerkriege verheerten Finnland, das ein Prozent seiner Bevölkerung verlor, Ungarn, Irland, Russland, die Ukraine und weite Teile des einstigen Zarenreichs. Diese Bürgerkriege folgten meist auf nationale oder sozial motivierte Revolutionen.

Oft überlagerten sich die Konflikttypen. Gemeinsam war ihnen eine brutaler Extremismus. Dem Gegner sollte nicht, wie in den Schlachten des Ersten Weltkriegs, der eigene Wille unter Einsatz aller Mittel aufgezwungen werden. Sie sollten schlicht verschwinden, vernichtet werden. "Genozidale Logik" setzte sich durch. Winston Churchill hat die Zerstörung Smyrnas eine "Höllenorgie" genannt.

Leichtfertig, vom britischen Premier David lloyd George ermuntert, landete 1919 ein griechisches Heer in der kleinasiatischen Stadt. 1922 wurde sie von kemalistischen Truppen erobert.

Die Griechen hatten vorher gegen Muslime gewütet, nun riss man dem Erzbischof Chrysostomos die Barthaare aus, schnitt ihm Ohren, Nase, Hände ab, stach ihm die Augen aus und ließ ihn verbluten. Etwa 30 000 Griechen und Armenier wurden innerhalb von zwei Wochen ermordet. Und Höllenorgien wie diese fanden an vielen Orten Europas statt.

Vom Terror der Paramilitärs, die sich nach dem Ende der Räterepublik in Ungarn austobten, berichtet Gerwarth über einen, der die abgeschnittenen Ohren seiner jüdischen Opfer als Glücksbringer sammelte und einen anderen, der sich mit ausgezeichnetem Appetit an den Tisch setzte, weil er am Nachmittag, wie er sagte, einen Juden bei lebendigem Leib in einer Lokomotive verbrannt habe.

In den Bürgerkriegen nach der Machtergreifung und dem demonstrativen Terror der Bolschewiki entstand rasch die enge Verbindung von Bolschewikenfurcht und Antisemitismus. Sie zeichnete die rechten Extremisten, Freikorpsleute, Faschisten aus, gab ihrem Aktionismus eine Richtung.

Wie verhängnisvoll die von den Siegern diktierten Friedensverträge auf die Gesellschaft der Besiegten, auf die deutsche Republik, auf Österreich, auf Ungarn wirkte, ist oft beschrieben worden. Gerwarth weist zu Recht darauf hin, wie gering der Spielraum der siegreichen Politiker war, deren Nationen eine Bestrafung des Feindes und Gewinne für sich einforderten.

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Das Verlangen der Mittelmächte nach einem "gerechten Frieden" musste den Alliierten verlogen erscheinen, nachdem doch kurz zuvor die Mittelmächte Russland und Rumänien in den Verträgen von Brest-Litowsk und Bukarest drakonische Bedingungen aufgezwungen hatten.

Nun fühlten sich die Besiegten nicht allein durch die Pariser Vorortverträge, Schuldzuschreibung, Reparationen, Rüstungsbeschränkungen, gedemütigt. Sie warfen den Alliierten Heuchelei vor, da ihnen, wie sie glaubten, das feierlich beschworene Selbstbestimmungsrecht der Völker vorenthalten blieb. Die Frage der Minderheitenrechte und Pläne der "Entmischung" blieben auf der Tagesordnung.

Einem gelang es, einen demütigenden Friedensvertrag zu korrigieren und eine ethnische Säuberung durchzuführen: Mustafa Kemal, dem Vater der modernen Türkei. Hitler erzählte später, dass er wie auch Mussolini, in Kemal ihren Lehrmeister bewundert hätten. Stefan Ihrig hat 2014 die Rolle Atatürks in der NS-Ideologie untersucht.

Gerwarth verweist darauf; vor dem Nachkriegspanorama, das er ausbreitet, überrascht dies kaum noch. Es ist zugleich ein Vorkriegspanorama, der Zweite Weltkrieg erscheint darin keineswegs zwangsläufig, nicht unvermeidlich, aber, wie Gerwarth schreibt, "letztlich folgerichtig". Der strategische Einsatz von Terror, die Entmenschlichung des Gegners, die "genozidale Logik" waren in den Jahren des europäischen Bürgerkriegs 1917 - 1923 erlernt worden.

Wie stoppte die Gewalt?

Ein Bild dieser Epoche konnte man jüngst auch in dem abschließenden Kapitel von Jörn Leonhards Monumentalgeschichte "Die Büchse der Pandora" oder in Ian Kershaws großem Werk "Höllensturz" gewinnen. Robert Gerwarths Buch über den Krieg, der nicht aufhörte, provoziert - zum Glück - allerhand Fragen.

Wie Kriegserfahrung, Kriegsbilder und das Erlebnis der Niederlage zusammenwirkten, wüsste man gern genauer. Wann und wie gelang es, der Gewalt Einhalt zu gebieten? Etwa in der Tschechoslowakei Masaryks, der zwar anfangs rigide gegen die deutsche Minderheit vorging, aber dann doch eine für die Zeit erstaunlich stabile Demokratie anführte?

2014 haben die Europäer ausgiebig an die "Urkatastrophe" erinnert. Wie aber wird im kommenden Jahr über 1918/19 gesprochen? Können die sehr verschiedenen Geschichtsbilder und Erinnerungen koexistieren? Wo liegen Gemeinsamkeiten? Wer sich dafür interessiert, kommt an Robert Gerwarths beeindruckender Darstellung nicht vorbei.

Robert Gerwarth: Die Besiegten. Das blutige Erbe des Ersten Weltkriegs. Aus dem Englischen von Alexander Weber. Siedler Verlag, München 2017. 428 Seiten, 29,99 Euro. E-Book 23,99 Euro.

© SZ vom 03.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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