Zeitung vom 1. August 1915:Als der deutsche Kaiser seine Unschuld beteuerte

Münchner Neueste Nachrichten Zeitung 1. August 1915 1. Weltkrieg

Titelseite der Münchner Neueste Nachrichten vom 1. August 1915 (Abendausgabe)

(Foto: Oliver Das Gupta)

Deutsche Erfolge überall, Trunksucht in Frankreich - und Kaiser Wilhelm II., der behauptet, den Ersten Weltkrieg nicht gewollt zu haben: Was am 1. August vor 100 Jahren in der SZ-Vorgängerzeitung stand.

Von Barbara Galaktionow

Am 1. August 1915 findet sich in den Münchner Neuesten Nachrichten folgende unscheinbare Meldung:

"Klara (sic!) Zetkin verhaftet. Der Vorwärts berichtet, daß die zur Liebknecht-Gruppe zählende sozialdemokratische Schriftstellerin Klara Zetkin in Stuttgart verhaftet und nach Karlsruhe gebracht worden sei." Über den Grund der Verhaftung kann die Zeitung nur spekulieren, doch vermutet sie, diese könne mit dem "Vorgehen gegen die angeblichen Verbreiter der Berner Frauenkonferenzresolution zusammenhängen".

Und so war es auch. Clara Zetkin (1857-1933), engagierte Kämpferin für die Rechte der Frauen und der Arbeiter, hatte im Frühjahr 1915 im schweizerischen Bern eine internationale Frauenkonferenz veranstaltet. An ihr nahmen unter anderem auch Delegierte aus Frankreich, Russland und Großbritannien teil - den Staaten der damaligen Kriegsgegner Deutschlands.

"Ein Jahr im Weltkampfe"

Am Ende verabschiedeten die Teilnehmerinnen eine Resolution, in der die "Proletarierinnen der kriegführenden Länder" aufgerufen wurden, sich für ein sofortiges Ende des Ersten Weltkriegs einzusetzen (hier der Text). Allein in Deutschland sollen Zehntausende Exemplare des Manifests verbreitet worden sein. Dass das dem Deutschen Reich solche Aktivitäten nicht schmeckten, ist klar. Zetkin wurde im Juli 1915 festgenommen.

Doch in den Münchner Neuesten Nachrichten ist die Causa Zetkin am 1. August 1915 nur eine Randnotiz, im übrigen fast die einzige, die - wenn auch nur indirekt - darauf hinweist, dass keineswegs alle Deutschen die Kriegspolitik gutheißen. Ansonsten durchzieht das Blatt am Jahrestag des deutschen Kriegseintritts ein völlig anderer Ton.

Wuchtig springt dem Leser die Überschrift auf der ersten Seite der Vorabend-Ausgabe entgegen: "Ein Jahr im Weltkampfe", heißt es hier. Die Bilanz, die darunter für das Kriegsjahr gezogen wird, fällt für das Deutsche Reich fast durchweg positiv aus.

Hauptgrund ist dem Münchner Blatt zufolge die innere Einheit der Deutschen, die durch die vermeintliche Angriffslust der Gegner zusammengeschweißt und gestählt worden sei. Von "dem ersten Schlage der Sturmglocke an, die durch Europa Feuer rief" habe das ganze Volk begriffen, "es geht um unser Leben!".

Eines Tages würden die Feinde erkennen, dass ein "Volk, das durch das Wetter dieses Krieges geschritten ist, daraus härter hervorgeht, und nicht nur gegen die Schwächen der Furcht, sondern auch gegen die Schwächen des Vertrauens kälter".

Gefeiert wird im Rückblick vor allem der 4. August 1914, als alle Parteien des Reichstags geschlossen die Kriegskredite bewilligten, auch die SPD. Mehr zähneknirschend wird immerhin erwähnt, dass Teile der Sozialdemokraten später dann doch wieder von diesem Kurs abwichen - "unter internationalen Zwangsvorstellungen leidend, den unversöhnlichen Feinden die Hand hinzustrecken suchte", wie der Leitartikler befindet.

Gefeiert wird auch die enorme Anpassungsfähigkeit und Opferbereitschaft der Deutschen, was die Kriegswirtschaft betrifft. Zwar können auch die Münchner Neuesten Nachrichten angesichts der immer knapper werdenden Lebensmittel nicht verleugnen, dass hier keineswegs alles so geordnet abläuft wie es sollte (hier mehr dazu).

Doch so schlimm, wie die Hungersnot im Steckrübenwinter 1916/17 grassierten sollte, drückt die Lage 1915 noch nicht, und so kann das Blatt trotz Rationierungen, Lebensmittelkarten und Kartoffelbrot von der "unverwüstlichen Gesundheit unserer Volkswirtschaft" schwadronieren und behaupten, die "eigene Kraft des deutschen Wirtschaftskörpers" habe sich als groß genug erwiesen, um sich dem "Aushungerungskrieg Englands" erfolgreich entgegenzustemmen.

Der Kaiser versichert: "Ich habe den Krieg nicht gewollt"

Auch am Mythos, dem Deutschen Reich sei der Krieg von äußeren Feinden aufgezwungen worden, wird eifrig weiter gesponnen, ja dies wird als der Grund für die besondere deutsche Schlagkraft im Krieg gesehen. So sei klar, dass "eine Genossenschaft zur Verteilung einer erst noch zu erlegenden Beute" (die Feinde, also vor allem Frankreich, Russland und Großbritannien) bei dem heißesten Willen nicht das "gleiche Maß sittlicher Kraft und Pflichterfüllung aufbringen (könne), wie ein Bund der Verteidigung von Hof und Herd" (ergo: Deutschland und Österreich-Ungarn).

Auch dem alten Kriegstreiber Kaiser Wilhelm II., der als Einflüsterer der Donaumonarchie nicht ganz unwesentlichen Anteil am Kriegsausbruch hatte, geht zum Jahrestag die Behauptung von den Lippen: "Vor Gott und der Geschichte ist Mein Gewissen rein: Ich habe den Krieg nicht gewollt."

Weiter spricht der Kaiser vom "Ingrimm der Notwehr", so zitiert ihn das Münchner Blatt in seiner Morgen-Ausgabe. "Keine Vergewaltigung völkerrechtlicher Satzungen durch unsere Feinde" sei imstande gewesen, die Deutschen zu schwächen. Davon, dass es deutsche Truppen waren, die zu Kriegsbeginn völkerrechtswidrig das neutrale Belgien überrannten, ist hier natürlich nicht die Rede.

Wovon die Münchner Neuesten Nachrichten tönen, sind hingegen die deutschen Kriegserfolge. Der festgefahrene Stellungskrieg im Westen wird schöngeredet: Belgien und ein "überaus wertvolles französisches Grenzgebiet" seien "fest in deutschen Händen". An der Ostfront, wo die Mittelmächte zu dieser Zeit tatsächlich einige Erfolge verbuchen, zeigt sich die "russische Macht schwer erschüttert".

Im Hinblick auf die neue Südfront, die mit dem Kriegseintritt Italiens im Mai 1915 eröffnet wurde, aber auch schnell erstarrte, schiebt das Blatt dem Gegner den Schwarzen Peter zu: "Italien hat seinen großen Dichter d'Annunzio zum obersten Kriegsberichterstatter erwählt. Das ist bezeichnend", befindet es.

Überhaupt sieht es, glaubt man den Münchner Journalisten, um die Kampfkraft der Gegner ganz schlecht aus. Da herrschen Zwist und Unfrieden zwischen den Entente-Mächten: Frankreich kritisiert russische Berichte, Franzosen zeigen sich unzufrieden mit den Engländern. Zudem sind die Staaten aber auch mit internen Probleme beschäftigt: So kämpft England gegen den Kohlemangel und es gibt "Mißbehagen" in der Wehrdebatte. Frankreich hat mit "Trunksucht" zu kämpfen und mit royalistischen Umtrieben im Heer, Russland hingegen mit aufständischen Arbeitern.

"Der Wiener ist genügsam geworden"

Gut, dass es im eigenen Lager ganz anders aussieht, nicht nur beim deutschen Volk, sondern auch beim Verbündeten Österreich: "Der Wiener ist genügsam geworden", berichtet der Korrespondent aus Österreich. Ganz ohne zu raunzen, verzichte der sonst so leichtlebige Nachbar auf Gewohntes. "Und wenn das bayerische Bier ausging und das Pilsener zu teuer wurde, dann trank man stillzufrieden sein Abzugbier" (eine Art Dünnbier), schreibt er.

Drei Jahre später ging der Krieg für Deutschland verloren - trotz all dieser Tugenden und angeblichen Schwächen der Gegner. Viele Konservative und deutschnationale mieden eine ehrliche Analyse und steigerten sich in eine paranoide Vorstellung: Innere Feinde in der Heimat hätten die unbesiegte Armee von hinten "erdolcht" (hier mehr dazu) - Feinde wie Juden und Linken, Feinde wie Clara Zetkin mit ihrer Anti-Kriegs-Agitation.

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