Zeitgeschichte:Steinerne Erinnerung

Deutschlands Gedenken an das Leid der Vertriebenen wurde lange politisch missbraucht. Jetzt ändert sich das.

Von Michael Jeismann

Jüngst wurde in der Bundesrepublik zum ersten Mal der Gedenktag an die Opfer von Flucht und Vertreibung begangen - parallel zum Weltflüchtlingstag, den die Vereinten Nationen seit dem Jahr 2000 abhalten. Politik und Vertriebenenverbände reagierten auf den 20. Juni jedenfalls ganz überwiegend positiv. Wie voraussetzungsreich dieses gelungene Gedenkmanöver, das Universales und nationales Gedächtnis in eins blendet, tatsächlich aber ist, zeigt das soeben erschienene Buch von Stephan Scholz.

Der Titel wirkt so inspiriert, als sei er vom Katasteramt diktiert: "Vertriebenendenkmäler". Und doch handelt es sich bei dem Werk um eine fesselnde Studie über die symbolische Repräsentation kollektiven Leids - und um einen der wichtigsten Beiträge der vergangenen Jahre zur politischen Ikonografie in Deutschland. Dazu trägt zunächst die gründliche qualitative und quantitative Recherche maßgeblich bei, sodann die Beschreibung der Funktionen und Konjunkturen der Erinnerungsmale von Flucht und Vertreibung und nicht zuletzt die souveräne Reflexion des geschichtspolitischen Umfeldes.

Zeitgeschichte: Eins von mehr als 1500: Denkmal für Heimatvertriebene in Berlin.

Eins von mehr als 1500: Denkmal für Heimatvertriebene in Berlin.

(Foto: imago)

Die Mystifizierung vom "weißen Fleck" der Erinnerung und dem vermeintlichen Tabu, das über dem Gedenken an deutsche Opfer liege, löst sich in der Analyse vollständig auf. Es war einzig die Forderung nach Revision der territorialen Grenzen nach 1945, die einen fatalen Effekt auf die allgemeine Akzeptanz des Vertriebenengedenkens hatte, denn diese Forderung politisierte die Trauer in eine Sackgasse hinein: Weder in der Adenauer-Zeit noch in der Zeit nach den Ostverträgen und schließlich auch nicht nach dem Fall der Mauer konnte die Heimat so zurückgewonnen werden, wie man sie in Erinnerung hatte oder haben wollte: als deutsche Heimat. Die Politisierung der Trauer durch manche Vertriebenenverbände mischte der Erinnerung an Flucht und Vertreibung über Jahrzehnte ein Gift bei, das sie für lange Zeit in Verruf brachte, gleichwohl aber nicht zum Tabu werden ließ: In der Online-Dokumentation des Bundes der Vertriebenen und in der quantitativen Erfassung durch Stephan Scholz selbst waren im Jahr 2014 1584 Denkmäler für die Vertriebenen in Deutschland nachweisbar. Wer kann da also ernsthaft von einem Tabu sprechen? Es war vielmehr die tatsächliche oder vermutete Nähe zu revisionistischem Gedankengut, die oft genug die Denkmalsinitiativen und sonstigen Anliegen der Vertriebenen diskreditierte - von der Nähe zu neonationalsozialistischen Gruppierungen ganz zu schweigen.

Die Grafik zum Bau von Vertriebenendenkmälern zeigt eine erste Konjunktur bereits von den späten Vierzigerjahren bis etwa zur Mitte der Fünfzigerjahre, dann ein deutliches Absacken der Aktivitäten von den Sechziger- bis zu den frühen Siebzigerjahren. Seit Mitte der Siebziger- bis weit in die Achtzigerjahre - noch vor dem Fall der Mauer - nahm die Zahl der Denkmäler für die Opfer von Flucht und Vertreibung dann wieder sprunghaft zu. In den neuen wie in den alten Bundesländern kam es dann zu einem neuen Anstieg, bis dann die Kurve recht unvermittelt abflacht. Betrachtet man dazu die bevorzugten Inschriften auf den Denkmälern über die Jahrzehnte hinweg, so ist hervorzuheben, dass bis in die Siebzigerjahre namentlich das Gedenken an die Toten und die Opfer im Vordergrund stand, mit den Neunzigerjahren und bis heute dann aber die gelungene Integration der Vertriebenen besonders gewürdigt wurde. Die "alte Heimat" wurde nun seltener hervorgehoben. Bemerkenswert ist die große Anzahl an kommunalen Denkmalsinitiativen in Polen und Tschechien, die in wahrhaft europäischer Manier von Vertriebenen und ihren Nachkommen sowie den heutigen Bewohnern gemeinsam entwickelt wurden - jenseits der Spiegelfechtereien der Interessensverbände eines politisch-instrumentellen Gedächtnisses.

Zeitgeschichte: Stephan Scholz, Vertriebenendenkmäler: Topographie einer deutschen Erinnerungslandschaft, Verlag Ferdinand Schöningh, 2015. 440 Seiten, 49,90 Euro. Als E-Book: 39,99 Euro.

Stephan Scholz, Vertriebenendenkmäler: Topographie einer deutschen Erinnerungslandschaft, Verlag Ferdinand Schöningh, 2015. 440 Seiten, 49,90 Euro. Als E-Book: 39,99 Euro.

Zum anderen, und das ist nicht minder erhellend, macht Scholz deutlich, wie Zentralität, also die Hauptstadt Berlin nach dem Fall der Mauer zu dem entscheidenden Ort der Denkmalplanungen aufstieg. Das geschah parallel zu den Denkmalbestrebungen anderer Opfergruppen, und hier wurde, was die Präsenz in der neuen Hauptstadt betraf, das Holocaust-Mahnmal zum Leitbild. Symbol für diese Tendenz ist das geplante Zentrum gegen Vertreibungen, dessen Schwerpunkt sich zunehmend entnationalisiert, ohne den deutschen Bezug aufzugeben.

Der Bund der Vertriebenen begrüßte überdies, dass der lange geforderte eigene Gedenktag auf den Weltflüchtlingstag am 20. Juni gelegt wurde. Damit kehrt das politische Gedenken, so steht zu hoffen, wieder verstärkt zum Leid des Einzelnen zurück und relativiert die konkurrierenden Ansprüche von Staaten, Verbänden oder sonstigen gesellschaftlichen Organisationsformen mit Anspruch auf Sinnstiftungshoheit. Das Werk von Stephan Scholz wird helfen, noch bestehende Zweifel auszuräumen.

Michael Jeismann ist Historiker und leitet das Goethe-Institut Senegal.

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