Zehn Jahre 9/11:Wie der arabische Frühling al-Qaida überrollt

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Seit Araber ihre Diktatoren stürzen, müssen Al-Qaida-Terroristen sich die Frage gefallen lassen: Wofür braucht man noch Dschihadisten? Ägypter und Tunesier mussten nicht erst zu Märtyrern werden, um das System zu stürzen. Plötzlich scheint in der arabischen Welt die Gegenwart aufregender als das Jenseits zu sein. Trotzdem werden die Terroristen versuchen, sich in die Aufmerksamkeit zurückzubomben.

Sonja Zekri

Vor ein paar Jahren unternahm der libanesische Journalist Samir Kassir eine Selbstanalyse der arabischen Welt und sein Ergebnis war niederschmetternd. Nicht allein, dass Analphabetismus, Repression und Nepotismus jeden Fortschritt erstickten, klagte er. Weder seien die arabischen Staaten fähig, Palästina zu befreien, noch hätten sie den Einmarsch der Amerikaner in Irak verhindert.

Elf Jahre nach 9/11
:New York gedenkt der Opfer der Terroranschläge

Elf Jahre nach den Anschlägen auf das World Trade Center gedenkt Amerika der knapp 3000 Opfer vom 11. September 2001. In der Vergangenheit hielten bei den Gedenkfeiern in New York Politiker wie US-Präsident Barack Obama Reden. In diesem Jahr steht der persönliche Schmerz der Zurückgebliebenen im Mittelpunkt.

Ägyptens Niederlage 1967, Israels Bombardierung des Libanon, US-Truppen in Saudi-Arabien, dem Boden der Heiligen Stätten Mekka und Medina, das alles verdichtete sich zu einer allgegenwärtigen, als fast naturhaft empfundenen Ohnmacht. Araber haben keine Zukunft, schrieb Kassir, schon die schiere Debatte über die Möglichkeit einer Veränderung galt als naiv. Die arabische "Malaise", das "arabische Unglück" infizierte Generationen. "Es ist kein Vergnügen, Araber zu sein."

Samir Kassir starb im Jahr 2005 durch eine Autobombe. Gewalt war auch im Libanon das bevorzugte Mittel politischer Auseinandersetzung, das schlimmste Symptom des arabischen Unglücks. Und niemand schürte die Verzweiflung der arabischen Massen eifriger, beschwor die Unterlegenheit dramatischer als die militanten Islamisten, die Dschihadisten, als al-Qaida. Die Überlegenheit des Westens war gewaltig, aber mit Bomben und Gewehren im Namen Gottes, so die Verheißung Osama bin Ladens, ließe sich die Lähmung durchbrechen.

Eine gelungene Investition

Osama bin Laden, Spross eines schwerreichen Bauunternehmers, hatte in den achtziger Jahren Bagger und Bulldozer nach Afghanistan gebracht und persönlich Schützengräben für die Mudschaheddin ausgehoben. Und Bauherr, Unternehmer, war er im Herzen geblieben. Noch der 11. September war für ihn neben vielem anderen auch eine gelungene Investition. "Al-Qaida hat für die Operation am 11. September 500.000 Dollar ausgegeben, während Amerika durch das Ergebnis, vorsichtig geschätzt, 500 Milliarden Dollar verloren hat", rechnete er 2004 in seiner "Botschaft an das amerikanische Volk" vor: "Das heißt, jeder Dollar von al-Qaida hat eine Million Dollar vernichtet dank des allmächtigen Gottes."

Auch al-Qaidas Propagandaarbeit trug Früchte - dank des "arabischen Unglücks". Mehr als 3000 Menschen waren am 11. September 2001 gestorben, aber die arabischen Abscheubekundungen blieben überschaubar. Für den Westen brach mit dem Angriff auf die beiden Türme des World Trade Centers in New York eine Epoche der Angst und Verunsicherung an, aber war die arabische Welt nicht schon seit Jahrzehnten verunsichert?

Viele Araber sahen 9/11 als gerecht an

Al-Qaida hatte den Tod ins Herz Amerikas getragen, die meisten Araber aber hatten Kriege selbst erlebt oder empfanden sich zumindest als Schicksalsgemeinschaft, die seit Jahrhunderten unter einem übermächtigen Gegner - dem Westen - litt. Ob Amerika Bagdad bombardierte, Israels Besatzungspolitik tolerierte oder den Polizeistaat Hosni Mubaraks unterstützte - am Ende sahen sich Iraker, Palästinenser und Ägypter als Opfer desselben, historisch beispiellosen Unrechts. Der 11. September, so dachten viele, demonstrierte den anderen nur mal, wie das ist.

Zehn Jahre später wirkt diese Lesart dramatisch veraltet. Als Osama bin Laden im Mai von einer Einheit der amerikanischen Navy Seals in seinem pakistanischen Gehöft erschossen wurde, reagierte die arabische Welt bemerkenswert desinteressiert. In Kairo marschierte eine Handvoll ultrakonservativer Salafisten vor der amerikanischen Botschaft auf. Ansonsten war die aufgewühlte Region mit sich selbst beschäftigt und der Frage, ob der neue Weg tatsächlich gangbar ist und wohin er führt.

Nur Monate zuvor hatten junge Männer und Frauen mit Twitter-Account und Facebook, aber ohne Koran und ohne Gewehr in 18 Tagen erreicht, was al-Qaida in Jahren nicht geschafft hat: den Zusammenbruch des Systems. Seit dem Fall der Herrscher in Tunesien und Ägypten ist al-Qaida mit der Tatsache konfrontiert, dass man die arabische Welt ändern kann, ohne zuvor Amerika zu vernichten, vor allem aber: ohne einen Schuss abzufeuern. Wofür brauchte man überhaupt noch Dschihadisten?

Seitdem ringt die Terrortruppe um Fassung. In einer posthum veröffentlichten Audiobotschaft pries Bin Laden vage den "Wind des Wandels". Sein Nachfolger, der Ägypter Aiman al-Sawahiri, erging sich in einer sechsteiligen Serie mit Erörterungen über die ägyptische Geschichte, äußerte sich aber jüngst vergleichsweise konzis zum Konflikt in Syrien: Präsident Baschar al-Assad sei der "Spross von Verrätern" und "Anführer von Henkern", die Protestierenden aber stünden an der "Front des Dschihad". Dennoch riet er zur Vorsicht: "Sagt Amerika und Obama, wir kämpfen für die Freiheit von korrupten Tyrannen und für die Befreiung der islamischen Religion."

9/11-Feuerwehrauto erhält Ehrenplatz
:Der letzte Einsatz

Am 11. September gedenkt die USA den Terroranschlägen auf das World Trade Center vor zehn Jahren. Schon jetzt wurde ein zerstörtes Feuerwehrauto an den Unglücksort gebracht - es transportierte elf Feuerwehrmänner auf ihrer letzten Mission.

Es war ein durchsichtiger Umarmungsversuch, denn außer Rhetorik hat al-Qaida den Unerschrockenen auf den Straßen von Hama und Lattakia nichts zu bieten. Die arabischen Revolten sind Volkserhebungen. Al-Qaida aber, die Avantgarde des Dschihad, warb über Jahrzehnte verbissen um die Herzen der Umma, der Gemeinschaft der Gläubigen, doch eine Massenbewegung war das Netzwerk selbst auf dem Höhepunkt seiner Popularität nicht.

Es sei die Pflicht jedes Muslim, "Amerikaner und ihre Verbündeten zu töten, ob Zivilisten oder Soldaten", hatte Bin Laden einst gefordert, in jedem Land, zu jeder Zeit, "bis ihre Armeen alle muslimischen Gebiete verlassen mit gelähmten Händen, gebrochenen Flügeln". Nur so können das Kalifat errichtet, die Umma befreit werden. Aber bei allem Hass auf die Dominanz des Westens - das ging den meisten zu weit. Die Umma war zu träge für den Kampf.

Was Muslime von den Morden al-Qaidas hielten

Für Millionen Nicht-Muslime war al-Qaida ohnehin nie anschlussfähig, selbst für viele Muslime. Al-Qaida rechtfertigte nicht nur muslimische Opfer in Selbstmordattentaten. Der jordanische Schlächter Abu Musab al-Sarkawi bombte in Irak im Namen al-Qaidas gezielt gegen "Häretiker", Schiiten im Sold der Amerikaner, die er für noch verschlagener hielt als die "Kreuzfahrer". Ein innermuslimischer Bruderkrieg war für ihn keine Katastrophe, sondern Strategie, in der sich die schiitenfeindliche Wahhabi-Ideologie al-Qaidas mit dem Kampf gegen die Besatzer ergänzte. Die Schiiten sollten unterworfen werden, die Amerikaner im Chaos versinken. Viele Muslime aber sahen nur noch wahlloses Morden.

Al-Qaida lebt vom Gefühl arabischer Hilflosigkeit, die Revolten gerade vom Gegenteil: In einer grandiosen Geste der Selbstermächtigung haben sich die Menschen in Ägypten und Tunesien, Libyen und Syrien zu Herrschern ihres Schicksals aufgeschwungen, die auf einmal, und sei es nur für den Moment, die Geschicke ihres Landes, auch der Region, vielleicht der Welt beeinflussen können. Plötzlich gab es eine Alternative, plötzlich schien die Gegenwart aufregender als das Jenseits zu sein.

Radikaler noch als die mächtige libanesische Schiitenmiliz Hisbollah beschwört al-Qaida den Fetisch ewigen Widerstands, in dem Tod kein Mittel ist, sondern das Ziel an sich. Auf den Straßen Hamas und in der Wüste Libyens aber treten die Menschen mit atemberaubendem Gleichmut in den Kugelhagel. Sie nehmen den Tod in Kauf, aber sie suchen ihn nicht, und sie brechen - anders als man es von Dschihadisten gehört hat - nicht in Tränen aus, wenn sie die Angriffe überleben und nicht ins Paradies für Märtyrer kommen.

Während die friedlichen Proteste eine frontale Herausforderung für den Ägypter Mubarak und den Tunesier Ben Ali, den syrischen Präsidenten Assad oder den jemenitischen Noch-Präsidenten Salih sind, wurde al-Qaida von einigen arabischen Ländern lange Zeit nicht nur geduldet, sondern sogar gefördert: Sollten sich die jungen Wilden in Afghanistan abreagieren, so dachte man in Libyen und Saudi-Arabien, umso weniger Unruhe würden sie zu Hause stiften.

Und so sehr al-Qaida die korrupten Despoten bekämpfte, so erbittert lehnen die Wahhabi-Gotteskrieger Rechtsstaat, Parteien und Pluralismus ab. Demokratie sehen sie als Versuch des Menschen, sich über Gott zu erheben und damit als Blasphemie. Im Hass auf "gottlose Tyrannen" wie Mubarak oder Saddam Hussein wusste al-Qaida die Massen hinter sich. Die Ablehnung einer weltlichen Demokratie aber reißt Gräben selbst zu jenen gemäßigten Islamisten auf, die in Ägypten und Tunesien neuerdings für Demokratie werben, auch wenn sich ihre Ideen von der eines Bundestagsabgeordneten deutlich unterscheiden dürften.

Auf den Plätzen von Tunis und Kairo überstrahlt das Pathos der Revolte die Marke al-Qaida. Als für die Nachfolge bin Ladens der Name seines damaligen Vize Aiman al-Sawahiri aufkam, am Nil geboren wie der 9/11-Attentäter Mohammed Atta, spottete ein Blogger in Kairo nur: "Bitte nicht schon wieder ein Ägypter." Gerade hatte das Land am Tahrir-Platz sein Image so schön gewandelt, war zur Wiege der Freiheit geworden und nicht länger Brutstätte von Terroristen.

Dschihadistisches "Flimmern"

Die arabische Revolte hat die globalen Gotteskrieger zu Randfiguren der Geschichte gemacht. Zehn Jahre nach dem 11. September ist dies eine historische Blamage, ein PR-Desaster. Aber al-Qaida ist oft totgesagt worden, auch im Bombenhagel in den Höhlen des afghanischen Tora-Bora im Dezember 2001 sah es nicht gut aus. Und schlimmstenfalls könnten die Dschihadis sogar vom Aufruhr profitieren. Sollten die postrevolutionären Regierungen in Tunesien und Ägypten die hohen Erwartungen enttäuschen, könnten sich die alte Ohnmacht, die alte Wut wieder Bahn brechen.

Außerdem wurden nach dem Sturz Mubaraks Tausende ehemalige Hardcore-Dschihadis nach Jahrzehnten in Haft ohne auch nur eine Anklage aus den Gefängnissen entlassen. Viele haben der Gewalt abgeschworen, manche wollen nun in die Politik gehen. Doch nicht alle sind befriedet. Einst hatte der Westen beste Drähte zu den gefürchteten Sicherheitskräften in Tunesien und Ägypten. Nun sind viele Kontakte abgerissen, werden umorganisiert, vielleicht abgewickelt. Die alte Komplizenschaft ist weg, al-Qaida könnte das Vakuum nutzen.

In Libyen zieht sich der Bürgerkrieg hin, vor einiger Zeit warnte die US-Regierung vor einem dschihadistischen "Flimmern" unter den Rebellen, zudem, so die Sorge in Washington, könnten Gaddafis alte Senfgas-Bestände und Boden-Luft-Raketen in die Hände der Gotteskrieger fallen. Im Jemen schließlich ringen Präsident, Armee, Islamisten und Stämme verbissen um Macht und Geld. Für den Kampf gegen al-Qaida hat Amerika die Sippschaft von Präsident Salih trainiert und ausgerüstet. An wen soll Washington sich wenden, wenn Salih fällt? Schon heute kontrolliert al-Qaida Orte im Süden. Zerbricht der Jemen, was niemand ausschließen kann, könnten sie als Ordnungshüter auftrumpfen wie einst die Taliban in Afghanistan.

Bedrohung durch regionale Konflikte

Ohnehin sucht der Al-Qaida-Ableger auf der arabischen Halbinsel mehr als alle anderen die direkte Konfrontation mit dem Westen. Im Jemen wurde Omar Faruk Abdulmutallab ausgebildet, der mit einem Sprengsatz in der Unterhose Weihnachten 2009 ein amerikanisches Flugzeug in die Luft jagen wollte. Im Jemen schickten die Gotteskrieger Bomben in Druckerpatronen als Luftfracht los. Beide Anschläge flogen auf. Aber der Angstgegner des Westens hatte seinen weltweiten Anspruch erneut geltend gemacht.

Nicht für alle Dschihadi-Filialen steht dies noch im Mittelpunkt. In den vergangenen Jahren hat sich al-Qaida dezentralisiert. Die Ableger im Maghreb oder in Irak etwa operieren fast unabhängig. Klare Kommandohierarchien sind ohnehin schwer durchzusetzen, wenn die Spitze der Bewegung im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet von Versteck zu Versteck flieht. Nach dem arabischen Frühling, vor allem aber nach dem Führungswechsel könnte das Interesse an regionalen Konflikten steigen.

Der neue Terror-Chef Aiman al-Sawahiri, ein Arzt aus Kairo, gilt zwar nicht als Traumbesetzung der Nachwuchs-Dschihadisten: ideologisch konfus, charakterlich unbeherrscht. Aber schon mit 15 gründete er mit Mitschülern eine islamistische Untergrundzelle, heißt es, in den Razzien nach der Ermordung Sadats ließ ihn Mubarak für Jahre einkerkern. Wie viele andere Al-Qaida-Kämpfer wurde Sawahiri in den ägyptischen Folterkellern zum Gotteskrieger, der sein Leben dem Kampf gegen den Pharao widmete. Nun ist es so weit, der Staat ist geschwächt. Und Sawahiri, so vermuten viele, könnte neben dem manichäischen Endkampf mit Amerika seine verlorene Heimat in den Blick nehmen, den ägyptischen Gottesstaat vor dem großen Kalifat anstreben.

Diese Regionalisierung wäre in gewisser Hinsicht eine Rückkehr zu den Wurzeln. Im Krieg gegen die Sowjetunion in Afghanistan hatten Bin Ladens arabische Mudschaheddin an der Seite der Afghanen gekämpft, war al-Qaida mehr Servicebüro und Kontaktbörse als schlagkräftige Truppe. Mit seinem Mentor Abdullah Assam schleuste Bin Laden Gotteskrieger nach Afghanistan, verbuchte den Triumph über die ungläubigen Sowjets großzügig für sich und suchte anschließend neue Aufgaben.

Er war ein Veteran, der sich nach neuen Schlachten sehnte und dem vor der Demobilisierung graute. Dem saudischen König bot er in typischer Selbstüberschätzung an, Kuwait nach der irakischen Invasion 1990 mit seinen Männern zu befreien. Als der Monarch ablehnte, zog Bin Laden verbittert nach Sudan ab und erweiterte sein Feindbild um Saudi-Arabien und Amerika. In einer Art strategischer Überbietung erklärte er fortan die ganze Welt zum Schlachtfeld.

Könnte al-Qaida heute noch einmal ein 11. September gelingen? Der Westen, vor allem Amerika ist wachsamer, misstrauischer, besser gerüstet. Die Terroristen hätten es noch schwerer als vor zehn Jahren. Aber al-Qaidas Messianismus, die an die Anarchisten des 19. Jahrhunderts angelehnte "Propaganda der Tat" brauchen spektakuläre Erfolge, sie brauchen die Sensation des Schreckens. Noch beherrschen die arabischen Massen die Schlagzeilen. Aber al-Qaida wird versuchen, sich in die Aufmerksamkeit zurückzubomben.

© SZ vom 03.08.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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