Yekta Güngör Özden:"Erdoğans Krieg hat nie aufgehört"

Yekta Güngör Özden: Özden, 1932 geboren, studierte in Ankara Jura und engagierte sich bereits als Student in kemalistischen Vereinen. 1953 durfte er bei der Umbettung des Leichnams Atatürks in das heutige Mausoleum dabei sein.

Özden, 1932 geboren, studierte in Ankara Jura und engagierte sich bereits als Student in kemalistischen Vereinen. 1953 durfte er bei der Umbettung des Leichnams Atatürks in das heutige Mausoleum dabei sein.

(Foto: oh)

Der frühere türkische Verfassungsrichter im SZ-Interview.

Interview von Tim Neshitov

Yekta Güngör Özden ist einer der bekanntesten türkischen Juristen, er gründete die Türkische Juristenvereinigung und war von 1991 bis 1998 Präsident des Türkischen Verfassungsgerichts. Er ist ein wortgewaltiger Verfechter des Kemalismus und schrieb Bücher wie "Ihr seid Atatürk", "Die Türkei ist Atatürk, Atatürk ist die Türkei", "Atatürk ist unsterblich."

SZ: Herr Özden, wer steckt hinter dem gescheiterten Putsch vom 15. Juli?

Özden: Unsere gleichgeschalteten Medien zeigen auf Fethullah Gülen, aber das heißt nicht, dass Gülen es war. Wir sagen in der Türkei: Das Auge glaubt dem, was es sieht, das Ohr dem, was es hört. Bis ich konkrete Beweise sehe, kann ich nur spekulieren, und spekulieren will ich nicht.

Glauben Sie, der Putsch wird je aufgeklärt werden?

Das kann ich nur hoffen.

Erdoğan geht nun gegen viele Gegner vor, nicht nur gegen die Gülen-Bewegung. Müssen sich auch Kemalisten im Staatsapparat Sorgen machen?

Erdoğans Krieg gegen Kemalisten hat nie aufgehört, und er wird weitergehen. Von der jüngsten Entlassungs- und Verhaftungswelle sind aber meines Wissens noch keine bedeutenden Kemalisten betroffen.

Einige bedeutende Kemalisten wie General İlker Başbuğ und der Politiker Doğu Perinçek kamen vor zwei Jahren überraschend auf freien Fuß. Ihnen war Mitgliedschaft in dem mysteriösen umstürzlerischen Geheimbund Ergenekon vorgeworfen worden. Heute sagt Perinçek, Erdoğan habe sich der "Kemalistischen Revolution gebeugt". Ist die alte Feindschaft vielleicht doch vorbei?

Die Freilassung bedeutete nicht, dass es nun eine Allianz zwischen Erdoğan und Kemalisten gibt, das war einfach die Berichtigung eines juristischen Fehlers.

Die Allianz zwischen Erdoğan und Gülen gibt es jedenfalls nicht mehr. Das muss Sie doch freuen.

Ja, ich finde es gut, wenn Partnerschaften zerbrechen, die es auf die Grundlagen der laizistischen Republik abgesehen haben.

Sie haben vor 18 Jahren indirekt einen Beitrag zur Gründung der Regierungspartei AKP geleistet.

Wie bitte?

Das Verfassungsgericht unter Ihrem Vorsitz ging gegen die islamistische Wohlfahrtspartei (Refah) vor. Zwei Wochen nach Ihrem Ausscheiden aus dem Amt wurde die Partei verboten. Erdoğan war im Refah-Vorstand gewesen, nun gründete er die moderatere AKP.

Glauben Sie wirklich, die AKP wäre sonst nicht gegründet worden?

Das Parteiverbot war also richtig?

Ja, ich halte es auch heute für richtig, dass solche Parteien verboten werden.

Wie hat sich die AKP entwickelt?

Sie unterscheidet sich heute kaum noch von Refah. Die AKP setzt eigentlich die islamistische Agenda von Refah um.

Das Verfassungsgericht von heute wird aber nicht mehr auf die Idee kommen, die AKP zu verbieten.

Klar, aber die türkische Gesellschaft hat immerhin gegen Erdoğan protestiert. Der Verein zur Förderung der Ideen Atatürks hat 2007 und 2013 die großen Protestdemonstrationen mitorganisiert.

Sind solche Demos heute noch denkbar?

Kaum. Ich stelle fest, dass die Menschen sich immer weniger für Politik interessieren, sie lesen immer weniger, denken immer weniger nach. Es herrscht eine desinteressierte Ignoranz. Erdoğan gewinnt eine Wahl nach der anderen, aber auch seinem Geist tut diese Herrschaft nicht gut.

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