Würdigung:Karol der Große - ein Papst der Rekorde

Papst Johannes Paul II. ist tot. Zu seinem 25-jährigen Amtsjubiläum im Oktober 2003 verfasste SZ-Korrespondentin Christiane Kohl ein Porträt, in dem sie eine Bilanz seines Pontifikats zog.

Da sind sie wieder, diese Schuhe. Genau parallel stehen die braunen Slipper nebeneinander auf der mit beigefarbenem Teppich bezogenen Plattform.

Papst Johannes Paul II.

Papst Johannes Paul II. beim Gebet im Jahre 1998

(Foto: Foto: ddp)

Die Rockschöße der weißen Soutane darüber flattern sanft im Wind, wie ein verwelktes Blatt steckt eine in sich zusammengesunkene Gestalt darin. Ein alter Mann sitzt erhöht vor der prachtvollen Marmorfassade der Wallfahrtskirche zu Pompeji.

Von dem großen, quadratischen Platz zu seinen Füßen schauen etwa 30.000 Menschen wie gebannt auf diese Person, an der beinahe alles gebrechlich zu sein scheint: von der schütteren weißen Haarsträhne, die der Wind ihm ins Gesicht bläst, über die zittrigen Hände bis zur dunklen Stimme, die zuweilen beinahe zu ersterben scheint im Rauschen des Mikrofons - nur die Schuhe stehen unverrückbar auf dem Velours wie zwei Felsblöcke im Meer.

Slipper dieser Art trug Karol Wojtyla bereits vor 25 Jahren, als das Kardinalskollegium ihn zum Papst erhob. Bei seinem ersten Gottesdienst auf dem Petersplatz, die neue, goldbestickte Bischofsmütze wollte noch nicht recht passen auf dem Kopf des Polen, blitzten die braunen Laschenschuhe schon unter dem Talar hervor.

Später begleiteten sie Johannes Paul II. als sportliches Accessoire, wenn er federnden Schrittes die Gangways der Flugzeuge hinabstieg und gleichsam als Athlet Gottes in aller Welt zu den Menschen kam.

Ein tiefgläubiger Mystiker

Heute, am Ende seines langen Marathons im Namen des Herrn, den er mittlerweile nur noch im Rollstuhl zurücklegen kann, stecken die jugendlichen Slipper an seinen Füßen wie ein Relikt jener erdverbundenen Beständigkeit, die diesen Gottesmann stets ausgezeichnet hat.

Er ist ein tiefgläubiger Mystiker, der mit beiden Beinen fest auf dem Boden stand, ein wahrhaftiger Global Player, der fest verwurzelt ist in seiner Heimat - "Karol il Grande", wie der Titel eines soeben in Italien erschienenen Buches lautet: "Karol, der Große".

Wojtylas nunmehr 25 Jahre währende Amtszeit ist schon jetzt ein Teil der Historie und dabei noch immer ganz gegenwärtig, wie er selbst. Rastlos ist Johannes Paul II. über die Kontinente geeilt und hat seine universale Botschaft verkündet.

Unter anderem dank seines Anstoßes fiel das kommunistische Ostreich zusammen. Kaum war dies geschehen, begann er die Konsumsucht des Westens als babylonisches Erblaster anzuklagen. Karol Wojtyla ist ein Rebellenführer gegen den Zeitgeist und zugleich ein Staatsmann, der den Stummen seine Stimme leiht.

Ein einsamer Heiliger, der sich in der Anbetung einer Mariengestalt verlieren kann, und zugleich ein machtvoller Kirchenführer, dem die althergebrachte Etikette, nach der Frauen vom Priesteramt ausgeschlossen sind, trotz aller Neuerungen über allem steht.

Als erster Papst der Kirchengeschichte bat Johannes Paul II. um Verzeihung für die Kreuzzüge des Mittelalters wie für andere im Namen Gottes begangene Verbrechen, und er verbeugte sich vor den Opfern des Holocaust. Wojtyla war der erste katholischer Oberhirte, der seinen Fuß in eine Moschee und in eine Synagoge setzte, er nannte die Juden "unsere älteren Brüder" und eröffnete den Dialog mit den anderen Weltreligionen.

Zugleich brachte er ein strenges Vorschriftenwerk für die Eucharistie heraus, das den gemeinsamen Gottesdienst zwischen Katholiken und Protestanten praktisch zur verbotenen Geheimversammlung degradiert.

Daheim, im Vatikan, lässt Johannes Paul II. die Zügel manchmal so sehr schleifen, dass die Kurie sich scheinbar selbst regiert, doch zugleich lebt er ein Pontifikat der Superlative, das in der Geschichte ohnegleichen ist. Johannes Paul II. bereiste 129 Länder und kreierte 473 Heilige, weit mehr als alle seine Vorgänger zusammen.

Er verfasste 14 Enzykliken sowie 38 apostolische Briefe und hielt mehr als 3000 Reden. Sorgen ob seiner rastlosen Aktivitäten wischte der Unermüdliche stets nonchalant beiseite: "Es ist die Vorsehung, die uns führt, und manchmal legt sie uns nahe, eine Sache per excessum zu tun", hat er mal gesagt.

Karol der Große - ein Papst der Rekorde

Im Zentrum all seines Wirkens steht sein hartnäckiger Feldzug für den Frieden in der Welt. Wie kein anderer Repräsentant auf der internationalen Bühne hat sich Wojtyla, der die Grauen des Zweiten Weltkriegs als junger Mann miterlebte, in diesem Frühjahr mit aller verbliebenen Kraft gegen den Irak-Krieg gestemmt.

Papst Johannes Paul II.

Papst Johannes Paul II. auf dem Petersplatz im Jahr 2002.

(Foto: Foto: dpa)

Auch in Pompeji betete Johannes Paul II. am vorigen Dienstag für den Frieden. Hinter seinem beige gepolsterten, mit Goldband geschmückten Papstthron, den die Vatikan-Handwerker zu einem Rollstuhl umgebaut haben, stand ein zerbrechlich wirkender fünfarmiger Kristallleuchter, der die fragile Situation auf den fünf Erdkontinenten verkörpern soll.

"Betet für mich, jetzt und immer"

Mit jedem "Ave Maria" wurde eine Kerze darauf angezündet - für Wojtyla "das Licht Christi", das er auf "die Konflikte, Spannungen und Dramen" in der Welt projizierte. Langsam, aber immer noch energisch, las der alte Mann aus seinem Redemanuskript vor.

Wenn sich seine Zunge mal verhaspelte und die Spucke auf das Druckpapier tropfte, setzte er gewissenhaft von neuem an. "Betet für mich, jetzt und immer", rief er am Ende des Gottesdienstes den Gläubigen zu und für diesen Moment klang seine Stimme wieder fest und klar. "Es lebe der Papst", schrien die Gläubigen zurück, als wünschten sie, dass der Mann unsterblich werde.

Wenige Tage später halten die Menschen auf dem Petersplatz den Atem an, als Johannes Paul II. das Angelusgebet spricht: Es ist Sonntag, und dort droben am Fenster des Apostolischen Palastes steht ein schwer atmender, alter Mann.

Bewegt redet er von seinen 25 Papstjahren, von der Familie als christlicher Kernzelle und von den jungen Leuten, die eine neue, gerechtere Welt bauen sollen. Indes rutschen ihm die Worte ohne jede artikulierende Struktur aus dem Mund, zu verstehen ist fast nichts.

Plötzlich hält Johannes Paul II. inne, kneift die Augen zu und niest aus voller Kehle - ausgerechnet zum Beginn der Jubiläumsfeierlichkeiten in dieser Woche hat sich der Pontifex einen dicken Schnupfen geholt.

Nach 450 Jahren der erste Nichtitaliener auf dem Stuhl Petri

Es war Montag, der 16. Oktober 1978, als Karol Wojtyla überraschend zum Papst gewählt wurde. Nach 450 Jahren war er der erste Nichtitaliener auf dem Stuhl Petri.

Abends zuvor, so erinnerte sich dieser Tage der österreichische Kardinal Franz König an das Konklave, hätten die Gottesmänner noch ahnungslos beim Abendessen zusammengesessen.

"Es wurde nicht viel geredet, aber irgendwie lag eine Spannung in der Luft", zitiert das italienische Bischofsblatt Avvenire den heute 98-jährigen König. Mehrere Wahlgänge waren erfolglos verlaufen, weil sich zwei italienische Kandidaten gegenseitig blockiert hatten.

Da wagte König am Abend des 15. Oktober einen Vorstoß, wie er jetzt Avvenire erzählte: Der Österreicher sprach mit den deutschen Kardinälen, auch der polnischstämmige Amerikaner Jon Król bemühte sich. Irgendwann fragte König den polnischen Kardinalprimas Stefan Wyszinski nach seinem Kandidaten.

"Keiner", soll dieser geantwortet haben. "Ich denke, Polen könnte einen gebrauchen", sagte König daraufhin. "Meinst du, dass ich nach Rom sollte?", habe Wyszinski entgeistert gefragt. "Wenn ich mein Land verlasse, wäre das ein Sieg für die Kommunisten". Doch König meinte Wojtyla - und es sollte der Tod des Kommunismus werden.

Karol der Große - ein Papst der Rekorde

Papst Johannes Paul II. mit Würdenträgern

Papst Johannes Paul II. der orthodoxe Metropolit Athanasios aus Konstantinopel und der Erzbischof von Canterbury, George Carey.

(Foto: Foto: dpa)

"Ich weiß nicht, ob ich mich richtig ausdrücke"

Die Dämmerung brach schon herein, als Wojtyla, damals 58 und ein Kraftprotz von Mann, an jenem Montag vor die Menschen auf dem Petersplatz trat. Er komme aus einem "fernen, so fernen Land", erklärte er vorsichtig auf italienisch, doch in der christlichen Tradition betrachtet, sei seine Heimat ganz nah.

Dann stutzte der neue Papst und wandte sich direkt an die Menschen: "Ich weiß nicht, ob ich mich richtig ausdrücke in eurer - in unserer Sprache: Wenn ich Fehler mache, müsst ihr mich verbessern." Schon hatte er die Herzen der Italiener für sich eingenommen.

Bereits am nächsten Tag schaffte Johannes Paul II. die altmodischen Sänften ab, in denen sich seine Vorgänger hatten tragen lassen. Er stapfte auf seinen eigenen Füßen durch die Welt, und nicht selten blitzten unter seiner weißen Soutane die braunen Sportslipper hervor.

"Fürchtet euch nicht", rief der Papst in seinem ersten Gottesdienst am 22. Oktober 1978 den Gläubigen auf dem Petersplatz zu: "Öffnet, nein reißt die Türen auf für Christus." Es sollte das Motto seines gesamten Pontifikates werden.

Der polnische Geheimdienst hatte den Kardinal aus Krakau stets für unpolitisch gehalten und damit in gewisser Weise recht gehabt. Den Primas Wyszinski kannte man als erklärten Antikommunisten, der in Wadowice bei Auschwitz geborene Wojtyla hingegen schien ein durchgeistigter Kirchenmann zu sein, ein Evangeliendichter, der über den Wolken schwebte.

Tatsächlich interessierte sich Wojtyla nicht für die offizielle Politik und den Konflikt zwischen den großen Weltideologien. Ihm ging es um das Evangelium - das aber machte Karol Wojtyla um so gefährlicher.

Er brachte die Erde zum Beben

Schon als er im Juni 1979 zur ersten Reise als Papst nach Polen fuhr, brachte er die Erde zum Beben. Neun Tage lang schien der Kommunismus ausgesetzt, Millionen Menschen besuchten die Gottesdienste. Im Jahr darauf streikten die Danziger Werftarbeiter, die Gewerkschaft Solidarnosc gründete sich.

Den Ankauf von Druckmaschinen und anderen Werkzeugen im Freiheitskampf der Arbeiter soll Johannes Paul II. bald mit großzügigen Geldgaben aus der Vatikan-Schatulle gefördert haben - so politisch war der Rebellenführer aus dem Vatikan nun doch.

Karol der Große - ein Papst der Rekorde

Johannes Paul II. am Flughafen in Damaskus

Papst Johannes Paul II. beim Besuch im Syrien am Flughafen von Damaskus im Jahre 2000

(Foto: Foto: AP)

Als der kommunistische General Wojciech Jaruzelski Ende 1981 den Ausnahmezustand erklärte, antwortete Wojtyla wieder mit den Waffen des Kirchenmannes: "Das Militärregime gibt es seit Dezember, die Jungfrau von Tschenstochau seit 600 Jahren", predigte er im Februar 1982 ungerührt.

Da hatte er soeben ein Attentat überstanden, dessen Umstände bis heute ungeklärt sind. Am 13. Mai 1981 zielte der Türke Mehmet Ali Agca auf den Papst, der sich zur Generalaudienz in einem weißen Wägelchen inmitten der Menschen auf dem Petersplatz befand.

Johannes Paul II. wurde in der Magengegend getroffen, es ging um Leben und Tod. War Ali Agcas Tat vom bulgarischen Geheimdienst initiiert, vom KGB, von der CIA? Man wird es wohl niemals präzise wissen. Den Papst selber schienen die Verschwörungstheorien nicht sonderlich zu interessieren, für ihn war die wundersame Rettung wichtig: "Eine Hand schoss und eine andere lenkte die Kugel."

Das Attentat war just am Jahrestag der Prophezeiung von Fatima passiert, einer Marienerscheinung, die drei Hirtenkinder 1917 nahe dem gleichnamigen portugiesischen Städtchen erlebt haben wollten.

Das dritte Geheimnis von Fatima

Im Mai 1982 reiste Wojtyla nach Portugal und legte die Kugel des Mordschützen auf den Wallfahrtsaltar in Fatima, später wurde sie in die Krone der Marienfigur eingearbeitet.

Von den Prophezeiungen der Hirtenkinder waren bis dato nur die ersten beiden Weissagungen bekannt geworden, die vom Zweiten Weltkrieg und vom Untergang des Kommunismus handelten.

Das dritte Geheimnis von Fatima lüftete Kardinal Joseph Ratzinger Jahre später im Auftrag des Papstes. Demnach hatten die Hirtenkinder 1917 auch von dem bevorstehenden Leid eines "weiß gekleideten Bischofs" gehört - nach Meinung Ratzingers konnte es sich nur um Wojtyla handeln.

Gegen Ende des Jahres 1989 brach das kommunistische Weltreich zusammen. Ohne Karol Wojtyla hätte die Geschichte vermutlich eine andere Wendung genommen, hat der einstige KPDSU-Generalsekretär Michael Gorbatschow einmal bemerkt. Indes war der Papst längst zu neuen Taten aufgebrochen.

Im Oktober 1986 hatte er in Assisi Kirchenführer aus aller Welt zum interreligiösen Dialog geladen. Jetzt arbeitete Wojtyla an der Versöhnung der verfeindeten Weltreligionen.

Als ehemaliger Schauspieler ging er dabei in symbolischen Schritten voran, indem er sich auf die Spuren des Alten Testaments begab und damit den Ursprung aller Weltreligionen zum Thema machte.

Auf Jesus Spuren im Nahen Osten

Das sollte im Heiligen Jahr 2000 geschehen. Ur in Kaldäa, im Irak gelegen, blieb ihm verwehrt. Doch stieg er im Frühjahr 2000 in Moses Fußstapfen auf den Sinai. Vor der kleinen Kapelle, die dort steht, wo einst der Dornbusch brannte, zog er seine braunen Slipper aus: Da standen die Schuhe, genau parallel nebeneinander, während der Papst auf weißen Strümpfen betete.

Dann wandelte er auf Jesus Spuren durch Israel und das Palästinensergebiet und folgte 2001 dem Weg des Apostels Paulus nach Damaskus. "Hab' Vertrauen, ich habe die Welt besiegt", zitierte er ungeachtet der politischen Lage einen Bibelspruch in der Grabeskirche von Jerusalem.

Mittlerweile bereitet sich die Kirche langsam auf Wojtylas Ende vor. "Der Papst wird sterben, wie wir alle", hat der Wiener Kardinal Christof Schönborn kürzlich gesagt.

Von den Kardinälen, die im nächsten Konklave einen neuen Papst wählen werden, aber sind nur vier nicht von Wojtyla ernannt. In kleiner Runde hat er kürzlich einen Satz von Horaz zitiert: "Ich werde nicht völlig sterben."

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