Wolkenkratzer-Boom:Freie Sicht auf die Käsereibe

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Londons neue Hochhäuser sind zumeist keine Bürotürme. Trotzdem lindern sie die Wohnungsnot nicht.

Von Alexander Menden

Graham Stirk blickt auf das Dach des Lloyd's Building hinab. Gut 100 Meter liegt es unter ihm. "Als ich 1985 auf diesem Dach dort unten war, dachte ich, ich stünde auf dem Gipfel der Welt", sagt der Architekt. Es klingt ein bisschen verwundert, fast wehmütig. Aber vor allem schwingt Stolz mit, Stolz darauf, wie viel höher er heute steht. Mit seinen 95 Metern war das Lloyd's Building, entworfen von seinem Büro Rogers Stirk Harbour + Partners, Mitte der Achtzigerjahre eines der höchsten Gebäude Londons. Sein jüngst eröffnetes neuestes Hochhaus, das Leadenhall Building, durch das er gerade führt, ist mehr als doppelt so hoch. Es ragt 225 Meter in den Himmel. Das Lloyd's Building auf der anderen Straßenseite verschwindet dagegen heute fast zwischen den wuchernden Wolkenkratzern, die sich dicht and dicht in der City drängen.

Im obersten der 50 Stockwerke der "Käsereibe", wie das Leadenhall Building auch genannt wird, ist man auf Augenhöhe mit der Aussichtsplattform des "Shard", einer der teuersten Touristenattraktionen der Stadt. Ein Lift transportiert Besucher mit einer Geschwindigkeit von sechs Metern pro Sekunde dort hinauf. Für den Rundumblick zahlt man pro Person 45 Euro. Renzo Pianos zackig auslaufende "Glasscherbe" südlich der Themse ist mit 310 Metern das derzeit größte Hochhaus Westeuropas: Der "Shard" ist emblematisch für die Londoner Skyline der Zukunft.

13 Blickachsen sollen völligem Wildwuchs dann doch vorbeugen

Die britische Metropole erlebt einen Wolkenkratzer-Boom. Für den Großraum London sind derzeit 236 Hochhäuser beantragt oder genehmigt. Mehr als 100 sind bereits im Bau, 22 davon werden 50 oder mehr Stockwerke haben. Stück für Stück wird aus London, das sich traditionell durch Breite, nicht durch Höhe auszeichnete, eine vertikale Stadt. An dieser Entwicklung entzünden sich viele Debatten, wie jene über die optimale Nutzung jedes sündteuren Quadratmeters Grundfläche, über die Verdichtung von Wohn- und Arbeitsraum und über den tatsächlichen Prozentsatz erschwinglicher Wohnfläche, die durch Hochhäuser entsteht.

Die Folgen für das Stadtprofil sind schon absehbar. Während es momentan vor allem zwei Hochhaus-Cluster gibt - im Bankenviertel und in den Docklands - werden in den kommenden Jahren überall in London Gebäude errichtet werden, die mit 75 Metern Höhe oder mehr der offiziellen Definition eines "Tall Building", eines Hochhauses, entsprechen. Um völligem Wildwuchs vorzubeugen, sind 13 Blickachsen vor Verbauung geschützt. Dazu gehört der Blick von der City Hall auf den Tower, jener von der Kuppe des Primrose Hill zum Westminster Palace - und jede erdenkliche Sicht auf St Paul's Cathedral. "Als wir mit der Planung begannen, gehörte zu den Auflagen, dass man unser Gebäude von einem bestimmten Punkt in der Fleet Street nicht hinter St Paul's würde sehen dürfen", erzählt Graham Stirk. Daher hat das Leadenhall Building seine sich nach oben verjüngende Käsereiben-Form: Die abgeschrägte Südwand lehnt sich, von Fleet Street aus gesehen, aus der Bildfläche.

Doch bei Weitem nicht alle neuen Londoner Wolkenkratzer sind so gelungen wie Stirks elegantes Gebäude, das aufgrund eines stählernen Dreiecksrahmens ohne tragenden Kern auskommt. Das 160 Meter hohe sogenannte Walkie-Talkie nebenan in der Fenchurch Street etwa ist mit seiner eingeschnürten Taille nicht nur hässlich, es hat auch eine Brennglaswirkung: Die konkave Glasfront des von Rafael Viñoly entworfenen Turms strahlt bei voller Sonneneinstrahlung so viel Hitze ab, dass sie mit einer Plane überzogen werden musste, um die Umgebung zu schützen.

Hochhaus-Gegner werfen dem Bürgermeister eine "phallische Obsession" vor

Gegen Projekte wie dieses, wenig durchdacht, nicht mit der Umgebung korrespondierend, regt sich Widerstand in der Stadt. Die "Skyline Campaign" setzt sich für eine strengere Baupolitik ein, die es erschweren würde, schlecht designten Hochhäusern eine Baugenehmigung zu erteilen. Die Kampagne, der sich prominente Architekten wie David Adjaye und Eric Parry angeschlossen haben, prangert eine "fundamentale Transformation" Londons an, die "mit einem schockierenden Mangel an öffentlicher Kenntnis, Beratung oder Debatte" voranschreite. Die neuen Hochhäuser seien überwiegend Wohnhäuser, die aber weder die Wohnprobleme lösten, noch eine besonders effiziente Form von Verdichtung darstellten: "Ihr Zweck ist, Investitionsmöglichkeiten zu schaffen, nicht Wohnungen oder zusammenhängende Gemeinschaften. Sie haben das Potenzial, dem urbanen Gewebe der Stadt und ihrem globalen Ruf zu schaden."

Solche Mahnungen verhallen bisher ungehört. Bürgermeister Boris Johnson hat die Forderung der "Skyline Campaign" nach einer "Skyline-Kommission" aus Experten, die den Überblick über die architektonische Entwicklung Londons behalten sollte, als undemokratisch zurückgewiesen. Der konservative Bürgermeister ist eine treibende Kraft hinter dem Hochhausboom, was den politisch sonst eher den Tories zuneigenden Journalisten Simon Jenkins dazu veranlasst hat, Johnsons "phallische Obsession" zu beklagen. Der Bürgermeister unterstützt umstrittene Projekte wie die geplanten sieben "Bishopsgate Goodsyard"-Türme in Shoreditch. Von den dort entstehenden 1450 Wohnungen werden nur zehn Prozent nicht zur Luxuskategorie gehören. Für die meisten Menschen in den angrenzenden Stadtteilen wäre Wohnen dort unerschwinglich.

Graham Stirk, selbst in einer Sozialbausiedlung in Leeds aufgewachsen, sagt: "Ich stelle immer die Frage, ob ein höheres Gebäude tatsächlich die beste Nutzung des vorhandenen Raums darstellt." Besonders stolz ist der Architekt darauf, in der eng bebauten City of London, einen neuen, begrünten öffentlichen Raum geschaffen zu haben - unter den Stelzen des erhöhten Foyers des "Cheesegrater". Als gesellschaftliches Angebot sollten Hochhäuser eben kein teures Kirmesvergnügen für Touristen sein, sagt Stirk: "Der Raum wird dadurch wertvoller, dass ihn alle gratis nutzen können."

© SZ vom 18.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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