"Wir wollten die Panzer aufhalten":Ein Mann mit gelben Rosen

15 Jahren nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens schaut China nach vorne und bestraft die, die nicht vergessen wollen.

Von Kai Strittmatter

Wozu hat der Mensch einen Mund? Um zu essen, sagt die Regierung.

Panzer

Ein Mann gegen das Militär: Die Panzer ließen sich aufhalten - doch nur kurz.

(Foto: Foto: AP)

Wozu hat der Mensch ein Gedächtnis? Um zu vergessen, flüstern die Vorsichtigen, die unter der Decke des Schweigens Zuflucht suchen.

Wozu hat der Mensch zwei Hände? Um den festzuhalten, der Rosen niederlegen möchte. Gelbe Rosen. Auf dem Platz, der einst erzitterte unter den Ketten der Panzer, die seinem Namen spotteten. Himmlischer Frieden.

15 Rosen hat er in der Hand, der junge Mann, Hu Jia heißt er, der durch eine Nickelbrille lugt. Weil sie 15 Jahre her ist, jene Nacht, in der die Menschen Füße hatten, um sie mit Wucht gegen Mauern zu kicken, wieder und wieder, um den Schmerz zu betäuben, der in ihnen aufbrach. In der sie Münder hatten, um die Führer zu verfluchen, die das über ihr Land brachten. In der sie lebten, um zu bluten.

Hu Jia war 15, als er in den Straßenkampf eingeführt wurde. Er war nicht auf dem Platz. Er kämpfte in der Vorstadt: die vorrückende Armee aufzuhalten.

"Wir redeten den Soldaten zu, erzählten ihnen, was in der Stadt passiert, dass ihre Kameraden das Feuer auf friedliche Bürger eröffnet hatten. Sie wollten es nicht glauben."

Als die Truppen weiter marschierten, bemächtigte sich die Gruppe um Hu Jia einiger Busse, sie stellten sie quer über die Straße. "Wir wollten die Panzer aufhalten." 15 Jahre ist das nun her. Sie haben sie nicht aufgehalten.

Hu Jia sagt, in dieser Nacht sei er zum Buddhisten geworden. Der Buddhismus lehrt, man solle nicht einmal eine Mücke zerdrücken; Fleisch isst er keines mehr seither. Er ist heute in der Aids-Hilfe tätig.

"Man hat nicht viele Spannen von 15 Jahre in einem Leben", sagt Hu Jia. "Man sollte sie mit Sinn füllen." Deshalb stand Hu Jia auf dem Platz an diesem Aprilmorgen, in der Hand den Strauß Rosen, in der Farbe des Gedenkens: gelb. Hu Jia findet, die Toten verdienten Erinnerung. "Ich schulde ihnen das", sagt er. "China schuldet ihnen das."

Die Regierung tat Unvorstellbares in der Nacht vom 3. auf den 4. Juni 1989: Sie hetzte die Volksbefreiungsarmee auf das Volk, überrollte Studenten mit Panzern, trieb Arbeitern Bajonette zwischen die Schulterblätter.

Hunderte Tote? Tausende? Keiner durfte sie bislang zählen. Friedliche Demonstranten, unbeteiligte Passanten.

Nein, sagte die Partei, die auch die Regierung war: Konterrevolutionäre waren das. Sie behauptet das noch immer.

Ein Mann mit gelben Rosen

Dem Vergessen anbefohlen

Hu Jia

Hu Jia, einer der Wenigen, die an das Unrecht erinnern.

(Foto: Foto: Strittmatter)

Das heißt: Eigentlich sagt sie gar nichts mehr. Sie hat diese Nacht dem Vergessen anbefohlen und ihre Worte danach ausgerichtet: "Konterrevolutionäre Rebellion" hieß sie die Demonstrationen gegen korrupte Kader und für demokratische Reformen zuerst.

Später sprach sie von einem "politischen Sturm", dann, verschämt, nur noch von einem "Zwischenfall". Jetzt schweigt sie. Und hält es damit so wie die Mehrheit des Volkes. Und die Mehrzahl ihrer neuen ausländischen Freunde.

Ist es nicht ein neues China? Hat sich die herbeigemordete Stabilität nicht ausbezahlt? Stürmt es nicht voran, das Land, zur Freude der ausländischen Kaufleute und zum Gefallen der neuen Mittelschicht?

Stimmt schon, man hat nicht viele Spannen von 15 Jahren im Leben, sagt der 33-jährige Kuai Mintang: "Gerade deshalb sollte man sein Leben nicht wegwerfen für einen verlorenen Kampf.

Nicht gegen eine Partei, die nur darauf lauert, alte Rechnungen zu begleichen." Kuai ist einer der Gewinner der Reformen. Er nennt in Peking ein kleines PR-Büro, eine schicke Wohnung und einen dunkelblauen Audi sein eigen.

Er war an jenem Abend auf der Straße, vor dem Militärkrankenhaus 301, sagt, er habe Blut fließen sehen, "in Strömen so breit wie die Schultern eines Menschen". Aber wer könne den Leuten verübeln, wenn sie vergessen wollten? Wenn ihnen das Vergessen vergolten wird: Viele der Demonstranten von damals haben Karriere gemacht, als Fabrikanten, als Architekten, aber auch als Chefredakteure der Parteipresse.

Macht Geschäfte, so viel ihr wollt, aber haltet den Mund!

Noch zum zehnten Jahrestag ließ die Regierung den Tiananmen-Platz umzäunen: "Umbau-Arbeiten". Diesmal genügt es ihr, ihn mit Zivilpolizisten vollzustellen. Sie arbeitet längst daran, den Ort mit anderen Assoziationen anzufüllen: Wenn sie vom Platz sprechen, sollen die Besucher an das spektakuläre neue Nationaltheater nebenan denken oder vielleicht an die luxuriöse Vier-Sterne-Toilette an seiner Westflanke.

Einmal schlug Peking vor, bei den Olympischen Spielen 2008 das Beachvolleyball-Finale dort austragen zu lassen. Das IOK lehnte diskret ab. In gewissem Sinne ist die Kommunistische Partei erfolgreich mit ihrem Deal, den sie dem eigenen Volk anbot nach 1989: Macht Geschäfte, so viel ihr wollt, aber haltet den Mund!

Ein Mann mit gelben Rosen

"Wir wollten die Panzer aufhalten": Die Freiheitsstatue war das Vorbild für die Göttin der Demokratie, die von den Studenten auf dem Tiananmen-Platz errichtet wurde.

Die Freiheitsstatue war das Vorbild für die Göttin der Demokratie, die von den Studenten auf dem Tiananmen-Platz errichtet wurde.

(Foto: Foto: AP)

Die jungen Pekinger wissen kaum mehr, was damals geschah. Keine Eltern haben es ihnen erzählt und keine Lehrer. "Was für ein merkwürdiges Land", sagt eine unserer Pekinger Bekannten: "China ist so offen geworden - und noch immer fürchten sich die Leute. Vor ihren eigenen Worten."

Anfang Mai erst wurde der Shenzhener Journalist Liu Shui von der Polizei abgeholt. Kurz zuvor hatte er Essays über 1989 ins Internet gestellt. Offizieller Haftgrund: Liu habe Prostituierte besucht. Das Urteil: Zwei Jahre Umerziehungslager.

Unsere Pekinger Bekannte handelt mit Bildern, auch sie hatte so viel Glück in diesen Jahren, dass sie sich eine Wohnung in Amerika leisten kann, und doch kehrt sie immer wieder nach Peking zurück: Sie liebt die Umtriebigkeit, das kreative Chaos und, natürlich, das Essen hier.

"China ist längst kein totalitäres Land mehr", sagt sie: "Die Regierung ist klug. Sie lässt dich heute reden. Sie lässt dich falsche Worte reden. Und das Beste: Sie lässt dich noch gut fühlen dabei, dass du falsche Worte redest."

Cui Jian fällt uns ein, der Rockmusiker, der in jenem Frühjahr mit seiner Hymne "Habenichts", aufspielte auf dem Platz. Als wir ihn fragten, was ihm im heutigen China am meisten zu schaffen mache, antwortete er: "Zhuangsha", das allgegenwärtige "Sich-Dummstellen".

Die Polizei war höflich

Ein paar wollen nicht länger des Kaisers neue Kleider preisen. Der Pekinger Militärarzt Jiang Yanyong wurde 2003 zum Helden der Sars-Krise, als er den Gesundheitsminister der Lüge bezichtigte und das wahre Ausmaß der Lungenseuche aufdeckte.

Jetzt hat er einen Brief geschrieben an die Parteiführung über seine Erfahrungen als Arzt am Militärkrankenhaus 301 in jener Juni-Nacht. Er beschreibt darin, wie ihm Menschen mit zerfetzten Lebern und Hirnen unter den Händen starben.

Er fordert die Rehabilitierung der Studenten. Er schreibt, der Himmel könne es nicht tolerieren, wenn Maschinengewehre gegen eigene Landsleute eingesetzt werden (eine Regierung ohne das Mandat des Himmels war im alten China verloren).

Jiang Yanyong, der Held von 2003, steht heute unter Hausarrest. Er sagt: "Aus einem Mund sollten nicht nur Lügen kommen." Ein anderer Brief kommt von einer Gruppe von 67 Intellektuellen: "Die Tragödie vom 4. Juni steckt wie eine Kugel tief im kollektiven Körper unserer Gesellschaft", schreiben sie. Infektiös sind solche Kugeln.

Hu Jia hat im März angekündigt, er wolle 15 Kerzen anzünden in der Nacht zum 4. Juni. Auf dem Platz. "Ich erzähle es jedem, der es hören möchte. Auch der Polizei. Das Abnormale ist doch das Schweigen." Dreimal hat ihn die Polizei seither für kurze Zeit festgenommen.

Wieso er so stur sei, hätten sie ihn gefragt, erzählt er: "Weißt du, dass du der Einzige bist, den wir in diesem Jahr des 4. Juni wegen festnehmen mussten?" Bei unserem Treffen Mitte Mai sagte Hu Jia, die Polizisten seien stets höflich gewesen: "Unser Land macht doch Fortschritte."

Ein Mann mit gelben Rosen

"Wir wollten die Panzer aufhalten": Sie hatten für Freiheit und Demokratie demonstriert. Die chinesische Regierung ließ sie töten - mit Panzern, Bajonetten, Kugeln.

Sie hatten für Freiheit und Demokratie demonstriert. Die chinesische Regierung ließ sie töten - mit Panzern, Bajonetten, Kugeln.

(Foto: Foto: AP)

Seit dem 22. Mai blockieren Beamte die Tür des Hauses, in dem er und seine Eltern leben. Sie lassen ihn nicht einmal in den Hof. Telefon und Handy funktionieren nicht mehr.

Als er einmal frische Luft schnappen wollte, waren sie nicht mehr so freundlich, da habe ihn der Staatssicherheitsbeamte gewürgt und geschlagen, zehn Minuten lang, sagt Hu Jia. Heute Nacht wird er Kerzen in sein Fenster stellen, so dass die Polizisten sie sehen können. Auf den Platz wird er nicht gehen können.

Er hat das geahnt. Deshalb war er schon dort. Am 15. April, dem "Gräberputztag", an dem die Chinesen ihrer Toten gedenken. Mit 15 gelben Rosen in der Hand ging er zum Märtyrerdenkmal, um sie niederzulegen.

"Im Morgengrauen, als die Nationalflagge gehisst wurde. Die Toten sollten das Licht des anbrechenden Tages sehen."

Ein Zivilpolizist erspähte ihn und die Blumen, stürzte auf ihn zu, riss die Rosen weg, brüllte ihn an, schleppte ihn auf die Wache. "Er kam eine Minute zu spät", sagt Hu Jia und lächelt. "Die Rosen hatten den Boden schon berührt."

Verrückt seien Leute wie Hu Jia, meint PR-Unternehmer Kuai Mintang: Alleine könne man eh nichts ausrichten. "Es ist doch Vergangenheit. Reden wir nicht mehr darüber! Wir führen lieber ein normales Leben."

Dann stutzt er, und man sieht ihm den Gedanken an, der ihm durch den Kopf schießt und ihn für einen Moment verunsichert: Wie normal kann ein Leben eigentlich sein, das ohne gemeinsame Erinnerung auskommt?

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