"Wir nennen es Politik" von Marina Weisband:Politik ist, was sie fühlt

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Marina Weisband alias @afelia träumt in "Wir nennen es Politik" von Bildung, Mitbestimmung, Transparenz.

(Foto: dpa)

Marina Weisband, Deutschlands bekannteste Piratin, hat ein Buch über Politik geschrieben. Darin leitet sie ihre politischen Ideen konsequent aus der eigenen Biografie ab - und hängt immer dann argumentativ in der Luft, wenn es um mehr als persönliche Erlebnisse gehen soll. Und die Piratenpartei? Spielt allenfalls eine Nebenrolle.

Von Hannah Beitzer

Wenn es um Marina Weisband geht, darf es schon einmal ordentlich pathetisch werden: Eine moderne Rosa Luxemburg sei sie, eine piratige Angela Merkel, schreiben Journalisten nach Treffen mit Deutschlands bekanntester Piratenpolitikerin. Das sind ziemlich große Namen für eine 25-jährige Studentin, die in einer Gerade-noch-zwei-Prozent-Partei nicht einmal ein Amt bekleidet. Eben diese Studentin hat nun ein Buch geschrieben: "Wir nennen es Politik", heißt es.

Weisband erklärt darin in jener bilderreichen, altmodischen Sprache, mit der sie sich seit nunmehr eineinhalb Jahren wacker durch sämtliche deutschen Talkshows parliert, wie sie sich das politische System Deutschlands vorstellt. Dennoch ist das Buch keine politische Kampfschrift. Es hat seine stärksten Momente dann, wenn es gar nicht um politische Theorie geht - sondern um Weisbands Leben. In lakonischen Sätzen umreißt die in der heutigen Ukraine geborene 25-Jährige die Geschichte einer Entwurzelung. Sie erzählt eine typische Außenseiter-Story, schildert Sprachbarrieren und jene schlimme Krankheit, an der sie schon fast seit ihrer Geburt leidet.

Es geht nahe, wenn Weisband beschreibt, wie sie kurz nach dem Atomunglück in Tschernobyl geboren wurde und seit ihrem zweiten Lebensjahr an einer Immunschwäche leidet. Weisband erzählt von ihrer aufopferungsvollen Mutter, die zum Wohle des kranken Kindes die Heimat verlässt und ins unbekannte Deutschland aufbricht. Und sie berichtet von ihrem Vater, einem Programmierer und "Visionär", wie Weisband ihn charakterisiert. Ob intendiert oder nicht - die Paar-Konstellation "liebevolle Mutter/visionärer Vater" kommt oft idealtypisch in der russischsprachigen Literatur von Tolstoi bis Pasternak vor.

Für Weisband, das wird schnell klar, ist Bildung der Schlüssel zur Welt. Wegen ihrer Krankheit verbrachte sie viel Zeit mit Büchern im Bett und lernte notgedrungen Deutsch bei zahlreichen Kuraufenthalten. Mit 13 Jahren, also um die Jahrtausendwende herum, ging sie zum ersten Mal ins Internet - ein Schlüsselerlebnis für Weisband, das sie zuerst in Chatforen voller Gleichgesinnter und letztlich auch zu den Piraten führte.

Weisband macht sich klein

Dadurch, dass sie ihre politische Laufbahn so eng mit persönlichen Erlebnissen und Gefühlen verknüpft, entsteht das Porträt einer jungen Frau, die gar nicht anders konnte, als aktiv zu werden. Ihre Ziele - mehr Bildung, mehr Transparenz, mehr Beteiligung - formieren sich aus der Erfahrung heraus, Außenseiter zu sein und dennoch etwas bewegen zu wollen. Das Internet erlebt sie als Tor zu einer Welt, in der sich andere für sie und ihre Ideen interessieren. Ein Piraten-Lebenslauf par excellence.

Dennoch hat der persönliche Zugang seine Tücken. Weisband möchte sich nämlich bei aller Offenheit nicht angreifbar machen. Deswegen macht sie sich unnötigerweise kleiner als sie ist. Das passiert schon im Einstieg: "Nehmen Sie dieses Buch nicht zu ernst. Es ist von einer 24-jährigen Studentin geschrieben, also was kann man davon erwarten?"

Immer wieder versucht Weisband, sich selbst aus der Schusslinie zu ziehen. Das biografische Kapitel begründet sie zunächst damit, dass der Verlag der Ansicht gewesen sei, ihre Lebensgeschichte sei wichtig für das Thema. Ihre Kandidatur zur politischen Geschäftsführerin der Piraten? Sie sei mehr oder weniger von Parteifreunden auf die Bühne geschubst worden, erzählt Weisband. Immer wieder entschuldigt sie sich für das, was sie schreibt oder wie sie es schreibt.

Entweder ist Weisband also einfach kokett. Oder sie hat tatsächlich Angst davor, zu sehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. Verwunderlich wäre das nicht. Gerade als Piratenpolitikerin weiß die Autorin, wie leicht jemand, der sich mit seiner eigenen Lebensgeschichte, seinen persönlichen Gefühlen und seinen Gedanken in die Öffentlichkeit wagt, aufs Schlimmste abgewatscht werden kann.

Was ist eigentlich mit den Piraten?

Dennoch wirkt diese betont passive Haltung widersinnig an einer Person, die auf mehr als 170 Seiten vehement vom Bürger Engagement einfordert. Und wenn sie sich bewusst oder unbewusst kleinmacht, dann demontiert die Piratin Weisband ausgerechnet das piratige Ideal, wonach Politik von allen für alle gemacht werden soll, wonach es keinen Unterschied macht, ob eine 24-jährige Studentin oder ein 90-jähriger Professor seine Ideen einbringt. Jeder Mensch, so die Logik der Basisdemokratie, bringt seine eigenen Erfahrungen ein - und jede Erfahrung ist wertvoll.

Wo Weisband diese persönliche Ebene ganz verlässt, grundsätzlich wird, da wird "Wir nennen es Politik" auf einmal arg phrasenlastig und simpel. Etwa, wenn sie das Wechselspiel von politischem Engagement und Macht anhand des fiktiven Bauern Otto beschreibt, der für sein Dorf ein Brückenprojekt plant.

An dieser Stelle wäre es ungleich spannender gewesen, zu erfahren, welche Lehren sie in puncto "Politik und Macht" aus ihrer Zeit als politische Geschäftsführerin der Piraten und mediale "Lichtgestalt" gezogen hat. Gerade am rasanten Aufstieg und noch rasanteren Abstieg der Piratenpartei ließe sich doch prima zeigen, was Macht mit Menschen macht, wo die Basisdemokratie ihre Grenzen hat, und wieso es Macht in der Politik allem gesunden Misstrauen zum Trotz braucht.

Weisband wird wehmütig

Überhaupt, die Piraten - sie kommen in "Wir nennen es Politik" eher am Rande vor. "Es geht in diesem Buch nicht darum, Werbung für die Piratenpartei zu machen", schreibt Weisband gleich zu Beginn. Und doch wirkt es seltsam, wie sie in pathetischen Worten ihre Anfänge bei der Piratenpartei beschreibt, die unrühmliche Gegenwart jedoch kaum Erwähnung findet.

Weisband erinnert sich stattdessen wehmütig: "Der Abend verlief, wie solche Abende verlaufen. In Abendkleidern Bier und Spirituosen einkaufen, verpeilt durch die Stadt fahren, viel zu viele Menschen in ein Hotelzimmer stopfen und singend, rauchend und lachend feiern. Es war das, was man seitdem als 'die epischste aller Partys' bezeichnet."

Was aber seit dem Einzug ins Berliner Abgeordnetenhaus im September 2011 mit der Partei passiert ist, die immerhin bald in den Bundestag einziehen will, kommt kaum vor: die Streitigkeiten, die Machtkämpfe, die Konflikte zwischen Bundesvorstand und Basis, die zähe Basisdemokratie - all das, was die Piraten in Umfragen inzwischen weit unter die Fünf-Prozent-Hürde getrieben hat. Weisband scheint sich nicht heranzutrauen an die Frage, wie es eigentlich mit der Umsetzung ihrer schönen Utopie von Online-Mitbestimmung, Chancengleichheit und Transparenz in der Realität läuft. Und sie bleibt die Antwort auf die Frage schuldig, warum gerade die Piraten dazu geeignet sein sollen, diese Ideale in die Tat umzusetzen.

Epische Shitstorms statt epische Partys

Inzwischen zeichnen sich die Piraten bekanntermaßen eher durch "epische Shitstorms" als durch "epische Partys" aus. Weisband lässt die sehr spezielle Streitkultur zwar anklingen, wenn sie schreibt: "Der offene Politiker hat keine Chance, er wird fertiggemacht. Wenn es ihm nicht scheißegal ist, was ihr von ihm haltet, wird er fertiggemacht. Von euch. Also schaffen es nur Leute an die Spitze, denen ihr egal seid." Doch sie liefert keine Antwort auf die eigentlich spannende Frage: Gibt es vielleicht strukturelle Gründe dafür, dass sich gerade die Piraten derart lustvoll selbst zerfleischen? Und vor allem: Was könnte die Partei dagegen tun? Stattdessen weicht sie auf Allgemeinplätze aus: "In letzter Zeit scheinen die Menschen total am Rad zu drehen."

Dennoch können die Piraten selbst aus dieser Zurückhaltung eine bittere Lehre ziehen: Die Erkenntnis nämlich, dass ihre bekannteste Vertreterin ein Buch schreibt, in dem die Partei nur eine Nebenrolle spielt, in dem Weisband aktuelle Entwicklungen und Tendenzen lieber ausspart, sich wegbeamt in ein utopisches Zukunfts-Deutschland voller Mitbestimmung und Chancengleichheit.

Und so bleibt das Buch letztendlich eine schöne Träumerei. Dagegen ist im Prinzip wenig einzuwenden, im Gegenteil: Weisbands glaubhafter Idealismus ist letztlich der Grund, warum sie immer noch gern gesehener Gast in jeder Talkshow ist.

Allein: Ihre Partei hat inzwischen ganz andere Probleme. Die Piraten müssen eine Antwort auf die Frage finden, wie sie ihre inneren Konflikte bis zu dem Punkt auflösen können, an dem sie dauerhaft von einer netten Utopie zu einem echten Akteur in Deutschlands Politik werden.

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