Winklers "Die Zeit der Weltkriege":Glück des Westens

Seit der Französischen Revolution 1789 breitet sich der demokratische Geist nach und nach aus. Doch warum verweigerte sich ausgerechnet das "zivilisierte" Deutschland, verantwortete Weltkriege und den Zivilisationsbruch der Shoa? Heinrich August Winkler versucht, dies zu erklären.

Dirk Schumann

Der Autor lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Göttingen.

Adolf Hitler, Benito Mussolini und Italiens König Viktor Emanuel in Rom,1938 SZ Photo/Scherl

Diktatoren Adolf Hitler und Benito Mussolini bei einer Parade in Rom 1938 

(Foto: SZ Photo/Scherl)

Als "Katastrophenzeitalter" hat der Historiker Eric Hobsbawm die Zeit zwischen den zwei Weltkriegen bezeichnet. Zwei Gewaltausbrüche unvorstellbaren Ausmaßes, der Vormarsch neuer Diktaturen und die Shoah ließen die Prinzipien des Rechtsstaats, der Gewaltenteilung und der Menschenrechte als Relikte der Vergangenheit erscheinen.

Sie sind der Kern der Revolutionen von 1776 und 1789 und damit auch der Kern von Winklers "normativem Projekt" des "Westens", dessen Entfaltung er im zweiten Band seiner monumentalen Geschichte des Westens weiter verfolgt.

Um an seiner Vorstellung von einer langen Kontinuität festhalten zu können, definiert Winkler die Epoche der Weltkriege als "Ausnahmezeit" und schreibt sie vornehmlich als Geschichte des Anti-Westens, also der drei neuen totalitären Systeme in Sowjetrussland, Italien und vor allem in Deutschland. Warum, fragt Winkler, verweigerte sich ein Land, das kulturell zum Westen gehörte, seinem normativen Projekt so nachdrücklich, dass es für einen neuen Weltkrieg und den Zivilisationsbruch der Shoah verantwortlich war?

Das Buch ist aber doch weit mehr als eine Geschichte der drei Diktaturen und ihrer internationalen Entstehungs- und Wirkungsbedingungen. Ein zweites Thema ist die selektive Übernahme "westlicher" Prinzipien in den neuen Nationalstaaten, die sich nach dem Zerfall der Habsburger Monarchie und des alten russischen Reiches bildeten.

Hier kam das vom amerikanischen Präsidenten Wilson verfochtene Selbstbestimmungsrecht der Völker zum Durchbruch, aber eben nur halb, weil den vielen nationalen Minderheiten keine adäquaten Mitwirkungsrechte eingeräumt wurden. Das dritte Thema ist die Entwicklung der etablierten Demokratien, der großen und auch der kleinen, und ihre Verteidigung gegen die neuen Gegner, bei der sie sich mitunter übler Mittel bedienten.

Der Aufbau des Werks entspricht vertrauten Mustern: Seine vier großen Abschnitte folgen der Chronologie und widmen sich dem Ersten Weltkrieg, der Zeit zwischen Waffenstillstand und Weltwirtschaftskrise, der Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Diktatur von 1933 bis zum Vorabend des Zweiten Weltkriegs und schließlich dem Krieg selbst, während die einzelnen Kapitel dann jeweils ein größeres Land oder die kleineren Länder einer Region behandeln.

Im Grunde schreibt Winkler also eine Geschichte des Nationalstaats in Europa und den USA und der angelsächsischen Dominions des sich zum Commonwealth umdefinierenden britischen Empire im Zeitalter der Weltkriege. Er schreibt sie als traditionelle Politikgeschichte der Staatsmänner und ihrer Entscheidungen, der Parteien und Parlamente.

Das Ergebnis ist - in den Grenzen dieses Ansatzes - eine flüssig, bisweilen geradezu spannend und mit sicherem Urteil geschriebene Synthese der Forschung, die durchaus eigene Akzente setzt, zumal dann, wenn Winkler die engen Bahnen politischer Entscheidungsgeschichte verlässt und sich politischen Ideenwelten zuwendet. So gelingt ihm etwa ein erhellendes Porträt der englischen "Neo-Tories", die in den 1930er Jahren das politische System autoritär umformen wollten, den Krieg verherrlichten und deutliche Sympathien für Faschismus und Nationalsozialismus erkennen ließen, einer Politik der Straße mit mobilisierten Massen aber ablehnend gegenüberstanden und trotz ihres Rückhalts in der Oberschicht keinen großen politischen Einfluss erringen konnten.

Auch die Ausführungen zu Kritikern der "New Deal"-Politik Franklin Delano Roosevelts wie etwa dem zunehmend faschismusfreundlichen Verleger Hearst zeigen, dass die westliche Demokratie in ihren Kernländern weitaus fragiler war, als es beim üblichen Blick auf die Protagonisten erscheint. Im Gegensatz zu anderen Darstellungen des "kurzen" 20. Jahrhunderts versteht Winkler zudem die Zeit der Weltkriege nicht einförmig als erste Etappe eines 1989 schließlich entschiedenen "Weltbürgerkriegs" zwischen Kommunismus und Kapitalismus. Auch weist er eine deterministische Deutung zurück, die den katastrophischen Ausgang der Epoche als zwangsläufige Konsequenz der Gewalterfahrungen ihres Anfangs beschreibt.

Blick auf faschismusfreundliche Briten und US-Tycoone

Doch ruht Winklers Erklärungsmodell auf einer Gegenüberstellung, der man schärfere Konturen wünscht. Das Überleben der westlichen Demokratie in ihren Kernländern schreibt er ihrer tief verwurzelten "politischen Kultur" zu, während er für die nur mangelhafte Durchsetzung und das Scheitern demokratischer Verfassungen eine allgemeine "Rückständigkeit" verantwortlich macht.

Riis, Jacob A.: "Nomaden der Straße", Straßenjungen im Schlafquartier, New York

Soziale Sicherheit als Hauptziel politischer Kämpfe: Schlafende Straßenjungen in New York um die Jahrhundertwende, aufgenommen vom sozialdokumentarischen Fotografen Jacob August Riis

(Foto: Jacob August Riis; oh)

Im deutschen Fall verweist er vor allem auf die zeitliche Differenz zwischen der Einführung des allgemeinen Männerwahlrechts unter Bismarck und der erst nach 1918 gelingenden Parlamentarisierung der Regierung, die in einer von Kriegsniederlage, Revolution und Inflation verunsicherten Gesellschaft Hitlers zerstörerische Massenmobilisierung möglich gemacht habe. Hier scheint doch die alte normative Modernisierungstheorie wieder durch, die eigentlich längst ad acta gelegt ist. Zugleich bleibt der Begriff des "Westens" diffus.

Neben dem "normativen Projekt" meint er die drei großen Demokratien Frankreichs, Englands und der USA, aber auch die vom lateinischen Christentum geprägten Länder und ihre direkten Nachbarn. So wird der Leser in manchmal übergroßem Detail über die Entwicklung der ost- und südosteuropäischen Staatenwelt nach 1918 informiert, während die Rezeption des "normativen Projekts" in Lateinamerika oder den imperialer Herrschaft unterworfenen Regionen Asiens, vor allem Indiens, mit ihren Rückwirkungen auf die USA und Europa im Dunkeln bleibt.

Problematisch erscheint darüber hinaus aber auch der Grundcharakter des "normativen Projekts". Wenn Winkler die letzten beiden Jahrhunderte als Kampf um seine Verwirklichung interpretiert, schreibt er ihm eine Abgeschlossenheit zu, die man mit guten Gründen in Zweifel ziehen kann.

Wie sich die Fortentwicklung des Projekts denken lässt, hat der britische Soziologie T. H. Marshall 1950 in seinem Stufenmodell bürgerschaftlicher Teilhabe ("citizenship") umrissen: Nach dem Schutz des Individuums vor staatlicher Willkür im 18. und politischen Partizipationsrechten im 19. bildete im 20. Jahrhundert soziale Sicherheit das Hauptziel politischer Kämpfe. Damit entstand eine neue Quelle politischer Legitimität, aber auch neuer politischer Konflikte, die Winkler jedoch nicht systematisch würdigt.

Noch mehr gilt dies für die moderne Massenkultur, deren Waren- und Bilderwelten neue Manipulationsmöglichkeiten, aber auch neue Gestaltungsmöglichkeiten individueller Freiheit eröffneten, wie sie etwa während der 1920er Jahre im Rollenmodell der "neuen Frau" zum Ausdruck kamen. Wenn sich Winkler im dritten Band mit den Jahren nach 1945 beschäftigt, wird er diesen beiden Hauptaspekten moderner Massengesellschaften, nicht zuletzt der "westlichen", kaum ausweichen können. Gleichwohl: Den Rang eines Standardwerks wird man seiner Geschichte des Westens jetzt schon zuerkennen.

HEINRICH AUGUST WINKLER: Geschichte des Westens: Die Zeit der Weltkriege 1914-1945. C.H. Beck, München 2011. 1350 Seiten, 38 Euro.

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