Wikileaks: Türkei:Klatsch über den "anatolischen Volkstribun"

Der Außenminister gilt als gefährlicher Fantast und der Premier als sturer Volkstribun: Auch die türkischen Regierungsmitglieder werden in den enthüllten Depeschen hart beurteilt.

Kai Strittmatter, Istanbul

Klatsch und Tratsch gab es auch über die türkische Regierung eine Menge zu berichten. Angebliche Millionentransfers von der Regierung nach Trabzon am Schwarzen Meer etwa, um den dortigen Fussballclub regelwidrig aufzupäppeln.

Recep Tayyip Erdogan

"Ein anatolischer Volkstribun": Der türkische Premierminister wird in den Depeschen als stur und informiert bezeichnet.

(Foto: AP)

Oder aber ein Innenminister, den eine Depesche vom 8. Juni 2005 als "Schwachstelle" im türkischen Kabinett ausmacht - wegen "seiner Verwicklung in den Heroinhandel, seiner allgemein bekannten Vorliebe für Teenagerinnen und die offenen Mafiakontakte seines Sohnes".

Glück im Unglück für beide Seiten: Besagter Abdülkadir Aksu wenigstens ist seit 2007 nicht mehr im Amt. Ansonsten aber, meint die große Zeitung Milliyet, sei klar: "Der Schaden dieser Wikipedia-Enthüllungen wird weit größer sein als der der Irakpapiere." Verheerend sei "die Art, wie die Amerikaner über die türkischen Politiker sprechen".

Premier Tayyip Erdogan gab sich in ersten Reaktionen betont zurückhaltend, er nannte die Seriosität von Wikileaks "zweifelhaft". Auch Energieminister Taner Yildiz sagte, man wolle mit einer öffentlichen Einschätzung zunächst warten, bis "Staub und Rauch sich gelegt haben".

Schon jetzt ist klar, dass die Depeschen das ohnehin angeschlagene türkisch-amerikanische Verhältnis weiter belasten. Das Misstrauen zwischen den beiden Nato-Alliierten wird wachsen - als ob es nicht schon groß genug wäre.

Außenminister Ahmet Davutoglu - der Architekt der neuen unabhängigen Außenpolitik der Türkei - wird in den Papieren als "Fantast" und "äußerst gefährlich" beschrieben, Erdogan als "sturer", autoritärer und uninformierter "anatolischer Volkstribun", der acht Bankkonten in der Schweiz führe, einer gespaltenen Partei vorstehe und allzu oft islamischen Einflüssen erliege.

Dabei darf Erdogan eigentlich noch zufrieden sein, manche Attribute wird er als durchaus schmeichelhaft empfinden, etwa die Beschreibung als "Perfektionist" und "Workaholic", der "drei Tage Urlaub noch für zu viel hält". Zudem finden sich auch ausgewogene Analysen, etwa jene Depesche vom Anfang 2010 über die neue Außenpolitik: "Heißt das, die Türkei konzentriert sich nun mehr auf die islamische Welt? Absolut. Heißt es, dass sie ihre Westorientierung deshalb aufgibt? Absolut nicht."

Über Premier Erdogan und seine Regierung steht dort: "Wir sehen niemanden Besseren am Horizont."

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