Widerstand zwecklos:Ja zu Kitsch und falschem Frieden

Warum viele einst erbitterte Gegner des vermeintlich so verlogenen Festes sich inzwischen mit der Tradition arrangiert haben

Von Matthias Drobinski

(SZ vom 24.12.2003) - Nie ist es dem Vater gelungen, einen Weihnachtsbaum zu kaufen, der vor meiner Mutter Gnade fand. Jedes Jahr am 23.Dezember stürmte er den schlaglöchrigen Parkplatz, in dessen Ecke ein Vogelsberg-Bauer seinen stark ausgesuchten Fichten- und Edeltannenbestand anbot.

Er feilschte den Preis herunter, manchmal unter Vortäuschung falscher Tatsachen, indem er im Straßenlaternenlicht zwei Tännchen mit einer Hand zusammenhielt und dem Verkäufer klar machte, dass man für solch krummes Elend keinesfalls zehn Mark zahlen könne. Er freute sich diebisch. Nicht, weil zuhause vier Kinder durchgefüttert werden mussten. Es war die kleine Anarchie im Leben eines Familienvaters.

Der Spaß war vorbei, wenn das Gewächs meiner Mutter unter die Augen kam. Zu groß, zu klein, das Astwerk löchrig oder so dicht, dass jedes Kerzlein innerhalb von Minuten Baum und Haus in Brand gesteckt hätte. Einmal hatte die potenzielle Zierde des Wohnzimmers nicht in den Kombi gepasst, die Heckklappe blieb offen.

Unglücklicherweise hatte es geschneit und gesalzener Matsch lag auf der Straße. "Du willst mich quälen", schimpfte Mutter seufzend, als sie das starrende Etwas sah. Brummend stapfte Vater auf die Terrasse, holte den Gartenschlauch aus dem Winterlager und spritzte den Baum ab, worauf die Schmutzkruste sich statt an die Äste in die Fliesen krallte.

Aus der Küche tönte es: Nie wieder dieses Scheißfest. Verlegen saßen wir Kinder da, und dann war auf einmal einem Krippenschaf der Kopf abgebrochen. Ihr auch noch, sagte meine Mutter müde.

Himmlische Ruh - von wegen

So ging das jedes Jahr. Das väterliche Schnäppchen und die mütterliche Verzweiflung darüber wurden zum festen Teil unserer weihnachtlichen Riten, wie Gottesdienst und Lukas-Evangelium, Ihr Kinderlein kommet und Maria durch ein' Dornwald ging, wie Geschenke und Pizza.Und hinterher war es doch wieder ein schönes Fest gewesen.

Irgendwann aber breitete sich selbst im gut katholischen Haushalt ein gemäßigt aufmüpfiger Geist aus, der diesen jährlichen Vollzug als verlogen enttarnte und das Fest als muffige Inszenierung falscher bürgerlicher Harmonie. "Es gibt keinen Neuschnee mehr", überschrieb der junge Autor Matthias D. einen Artikel in der Zeitschrift Die Lupe der Katholischen Jungen Gemeinde.

Das Zitat war geklaut von Kurt Tucholsky; der Text wollte sagen, dass zum Weihnachtsfest nur noch festgefahrene Pfade führten, die einstige Pracht längst zertrampelt sei. Das Fest Christi Geburt sei am Ende, zerfressen von Kitsch und Lüge und Frömmelei, verkauft an die Einmalimjahr-Christen und Quartalsfrommen. Schlafe in himmlischer Ruh? Wir hassten dieses Lied. Wir wollten wach sein und diese Weihnachtsfeierei abschaffen.

Sprach nicht alles für unseren neun-zehnjährigen intellektuellen Übermut? War nicht Ostern das zentrale Fest des Christentums, die Feier von Tod und Auferstehung Jesu? Weihnachten war eine von den Heiden abgekupferte Sonnwendfeier, begründet vor allem mit einer Legende aus dem Lukas-Evangelium, an der so gut wie kein Detail stimmen konnte. Aufgemöbelt mit dem sehr deutschen Innerlichkeits-Kitsch aus dem 19. Jahrhundert, endgültig zur Feier des Kaufens geworden durch jenen knollennasigen, rot gewandeten Weihnachtsmann, der als Coca-Cola-Werbung seinen Siegeszug begonnen hatte.

Gott wird Mensch, diese Botschaft braucht kein Weihnachten. Das könnten die Christen sagen, ohne dass ab September Lebkuchen in Supermarktregalen vor sich hin altern, ab November Knabenchöre aus Lautsprechern schmalzen und ab Anfang Dezember Weihnachtsmänner Passanten belästigen.

Ja, wir waren Weihnachtsgegner. Und wir hatten die Argumente auf unserer Seite: Nein zu Kaufrausch, Kitsch und falschem Frieden! Aber wir hatten eine Kleinigkeit übersehen. Dieses Fest muss sich gar keinen Argumenten stellen, schon gar keinen intellektuellen oder theologischen. Weihnachten berührt tiefere Schichten, Kindheitsmuster.

Es ist das Fest der schwer greifbaren säkularisierten Religion in dieser angeblich unreligiösen Gesellschaft. Am 24.Dezember sagt auch der fröhliche Heide: Gott, wenn es dich gibt, rette meine Seele - falls ich eine habe. Es bedarf jedenfalls tapferer atheistischer Anstrengung, um am Heiligen Abend ungerührt zu bleiben.

Vor zwei Jahren berichteten die Autoren der Shell-Studie, dass den fast vollkommen entchristlichten ostdeutschen Jugendlichen das Weihnachtsfest noch wichtiger sei als ihren Altersgenossen aus dem Westen. Nicht wir feiern Weihnachten. Es feiert mit uns Weihnachten, und Widerstand ist zwecklos.

Das gilt nicht nur für Sechzigjährige. Nicht nur für Kinder, die Kerzenlicht, Tannenbaum und Geschenke lieben. Auch in der Generation der 30- bis 40-Jährigen ist das so. In der Generation derjenigen, die gerade aufsteigen oder mühsam ihren Platz im Leben suchen. Die getrieben sind von Versagensangst und Allmachtsphantasie, radikal diesseitsbezogen, am wenigsten an Kirche oder Glauben gebunden.

Die Macher-Generation braucht das Fest

Aber vielleicht ist gerade deshalb die Sehnsucht nach der Geborgenheit im Ritus gewachsen: Die Macher-Generation braucht das Fest, in dem sie Kind sein kann. Sie sucht nach den Riten, die sie einst mit allen guten Gründen ablehnte.

Das Fest hat seine Gegner verloren. Da ist der Kollege, einst mit 16 Jahren der Familie entflohen, Weltenbummler, Arbeitstier. Weihnachtsfeier, das war für ihn vor zehn Jahren noch nicht mehr als eine ordentliche Sause mit Kollegen vom 24. auf den 25. - und jetzt? Weihnachtsgans mit Schwiegermama. Kirchenbesuch? Eher nicht, zu schlechte Erinnerungen an Zwangsfrömmigkeit. Aber Baum, Schmuck, leise Musik - das schon. Oder die Feministin, der kirchenleitende Macker ein Graus bleiben werden. Sie wird in die Kirche gehen und gerührt sein, wie letztes Jahr. Die nette muslimische Familie, die nie zum Christentum konvertieren würde - am Fenster hängen Weihnachtssterne.

Weihnachten ist eben nicht nur ein Fest für überzeugte Christen. Es ist längst über den kirchlichen Rahmen hinausgewachsen und zum Fest derer geworden, die ihren Kirchen in Treue fern stehen oder die, weniger noch, zwei Tage Stille suchen. Der Theologe Matthias Morgenroth hat herausgearbeitet, warum dieses Fest der säkularen Frömmigkeit so einmalig erfolgreich auf dieser Welt ist: Es ist ein Fest des Drinnen, des Privaten, der Kindheit, der Familie und des Poetischen, eingebettet in den Jahresrhythmus.

Ein hilfloses und unschuldiges Kind rettet die Welt. Es kommt in eine Familie, die das Heil birgt gegen die tödlichen Gefahren der Welt. Und dieses Ereignis wird jedes Jahr Gegenwart, in der "Privatkathedrale" (Morgenroth) des festlich geschmückten Wohnzimmers. Draußen dämmert es, drinnen strahlen Baum und Kinderaugen. Und die Lichterketten an den Balkongeländern, die Blinksterne in den Fenstern, die beleuchteten Schneemänner auf dem Garagendach sind das, was den echten Kirchen Turm und Glocken sind.

Auch in den Weihnachtsgottesdiensten haben die Familien die Herrschaft übernommen, als Protagonisten beim Krippenspiel, in der Schola, der Flötengruppe. Die Poetik der Lieder, der Geschichten um Weihnachtsmann und Christkind kann man zweitklassig finden, aber: Sie wirkt. Die Feier der Geborgenheit im Privaten, des ewigen Kindseins, ist die zentrale Feier des bürgerlichen Zeitalters.

Und so ist sie auch den Aufständischen von einst zur Gewohnheit geworden, wie ein alter Hausschuh, der den Geruch des Trägers angenommen hat, den man behält, weil die Erinnerungen, die sich in ihm festgesetzt haben, mehr wärmen als jedes neue Paar Schuhe. Weihnachten ist tröstlich selbst im Kitsch. Und selbst dort ein Ort der Sehnsucht, wo die Religion im Muff zu ersticken droht.

Deshalb geht auch die Besucherbeschimpfung ins Leere, die sich manche Pfarrer zur Christmette angewöhnt haben: Das ganze Jahr über seid ihr abgetaucht - und jetzt kommt ihr Heuchler zur Einstimmung ins Fest. Die Weihnachtsfrömmigkeit ist christlicher, als ihre kirchlichen Kritiker denken. Sie hat sich aus der Kirchlichkeit gelöst. Sie fragt nach dem Nutzen für den Einzelnen und danach, wie sie kompatibel ist zu den Sehnsüchten, Träumen, Hoffungen, aber auch Lebensgewohnheiten - allzu anstrengend sollte das alles nicht sein.

Karitativer Kater

Aber sie kommt doch immer wieder aufs Christliche zurück: Dass sich der postmoderne Mensch die Elemente seiner Frömmigkeit aus dieser Religion und jener Philosophie entleiht, ist ein Gerücht: Die Flicken der Patchwork-Religiosität sehen meist ziemlich christlich aus. Natürlich sollen die Kirchen andere Ansprüche stellen - schon allein deshalb auch, weil die meisten Heiligabend-Christen zwar einmal kommen und dann wieder gehen wollen - aber auch keine Kirche der Anspruchslosigkeit erwarten. Aber: Nie wird so viel gebetet und fromm gesungen wie zu Weihnachten. Nie wird so viel gespendet wie in diesen Tagen.

Und wenn das die Folge des schlechten Gewissens ist, des Katers nach dem Konsumrausch, dann möchte man sich, zugunsten der Bedürftigen, recht viel Kauflust im Lande wünschen.

Also: Ja zu Kitsch und falschem Frieden - allein schon, weil er besser ist als echter Krieg. Ja zu Englein, rauschebärtigen Nikoläusen, barfüßigen Christkindlein, zu fettem Weihnachtsessen und Schlips-und-Socken-Geschenken. Unser Zwergenaufstand gegen Weihnachten ist vorbei. Er hatte bei näherem Hinsehen auch nie richtig angefangen, den flammenden Schreibversuchen zum Trotz. Dem Fest entgeht man nicht. Und man sollte besser erst gar nicht versuchen, ihm zu entgehen.

Die innenpolitische Redaktion der SZ tut es ja auch nicht. Am 23. ist das traditionelle Weihnachtssingen. Nach getaner Arbeit gibt es Würstchen und Wein, einige Redakteurskinder sind gekommen und dürfen einmal sehen, wo ihre Väter oder Mütter leben, wenn sie nicht zu Hause zu Besuch sind. Der Streiflichtautor sitzt am verstimmten Klavier; die anderen singen: mit verteilten Rollen Wer klopfet an? Und: Es werd scho glei dumpa, es werd scho glei Nacht. Oder Ich steh an deiner Krippen hier bis zur dritten Strophe. Und die Inbrunst ist aus Selbstschutz mit ein wenig Ironie überzogen.

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