Wer wird Staatschef?:Alles oder nichts

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Auch das zählt im türkischen Wahlkampf: Wer bringt mehr Menschen auf die Straße? In Izmir hatte CHP-Kandidat Muharrem Ince am Donnerstag so viele Zuhörer wie noch nie. Im TV war davon wenig zu sehen. (Foto: Chris McGrath/Getty)

Wenn Recep Tayyip Erdoğan die Wahlen gewinnt, wird er mächtiger sein denn je. Doch das ist noch nicht sicher. Sein Konkurrent von den Sozialdemokraten ist stärker als erwartet.

Von Christiane Schlötzer

Kein Reporter vergaß zu erwähnen, dass der Flughafen nach der Eröffnung im Oktober, vier Jahre nach der Grundsteinlegung, der größte der Welt sein werde. Die Auftritte von Erdoğans Gegnern wurden an diesem Abend - wie sonst meist auch - im Fernsehen eher kurz gehalten.

Der riesige Airport wurde in den bewaldeten Norden Istanbuls gesetzt, Umweltschützer hatten vergeblich protestiert. Der Staatspräsident nutzt Kritik an seinen Großprojekten - Autobahnen, Brücken, Tunnel - , um seine Gegner kurzerhand zu Ewiggestrigen zu erklären. Bei den Wählern seiner konservativ-islamischen Partei AKP kommt das gut an. Auch einen zweiten Bosporus, Kanal Istanbul genannt, will Erdŏgan bauen lassen, wenn er die Wahl wieder gewinnt. Dieses Projekt, das er vor Jahren selbst noch "verrückt" genannt hatte, möchte Muharrem Ince, Kandidat der sozialdemokratischen CHP, auf jeden Fall verhindern - sollte die Opposition am Sonntag siegen.

Für Erdoğan, erst Premierminister und seit 2015 Präsident, geht es bei den Wahlen um sein politisches Überleben. Einige Umfragen sagen ein knapperes Rennen voraus als ursprünglich erwartet. Wohl deshalb hat Erdoğan in 16 Regierungsjahren jetzt erstmals "Koalitionen" im neuen Parlament nicht mehr ausgeschlossen. Damit hat er auch die eigenen Leute überrascht, bislang hatte er immer wieder erklärt, Koalitionen hätten das Land einst in den Ruin getrieben. So hatte er auch den Wechsel zu einem Präsidialsystem begründet. So gibt es künftig keinen Premier mehr, die gesamte exekutive Macht liegt beim Präsidenten, der seine 16 Minister ernennen und auch jederzeit wieder entlassen kann.

Wegen dieser Verfassungsänderung müssen Parlaments- und Präsidentenwahlen nun an ein und demselben Tag stattfinden, alle fünf Jahre. Nur zwei Amtsperioden sind dem Präsidenten erlaubt, die neue Zählung beginnt jetzt. Erdoğan, 64, könnte also, wenn er gewinnt, auch 2023, zum 100. Geburtstag der Republik, noch einmal antreten.

Für eine mögliche Stichwahl gibt es schon einen Termin: den 8. Juli. Der Gegner hieße wohl Ince, der CHP-Sozialdemokrat hat sich auf Platz zwei hinter Erdoğan hochgekämpft. Der Physiklehrer hat im Wahlkampf nicht nur die eigenen Anhänger mit rhetorischer Treffsicherheit überrascht. Als Erdoğan verkündete, jede türkische Familie habe heute einen Kühlschrank, und dies sei ein Zeichen dafür, dass die Armut besiegt sei, spottete Ince: Kühlschränke gebe es in der Türkei seit 40 Jahren, aber Erdoğan habe sie geleert. Das war eine Anspielung auf die stark gestiegenen Lebensmittelpreise. "Zwiebeln teurer als der Dollar", erklärte Ince am Freitag, weil ein Kilo Zwiebeln jetzt sieben Lira kostet, umgerechnet einen Dollar und 47 Cent. Wegen des Kursverfalls der Lira hatte die Zentralbank jüngst einen wichtigen Leitzins erhöht, gegen den Willen Erdoğans.

Bei der Parlamentswahl gibt es eine Zehnprozenthürde. Sie wurde vor Jahrzehnten eingeführt, um die Parteien der Kurden draußen zu halten. Nun wird aus der hohen Hürde ein Ansporn für alle anderen Parteien, die Kurden zu umgarnen - aus unterschiedlichen Motiven. Denn wenn es die Kurden nicht ins Parlament schaffen, ist die absolute Mehrheit der AKP sicher: Sie bekommt dann etwa 60 Abgeordnete mehr, das Parlament hat künftig 600 Sitze (bislang 550). Ein Teil der Kurden ist konservativ und sehr religiös. Eigens für sie hat die AKP zwei Wahlspots produziert, in denen Kurdisch gesprochen wird, das wäre vor ein paar Jahren undenkbar gewesen.

Der einzigen legalen Kurden-Partei, der linken HDP, wirft Erdoğan regelmäßig vor, verlängerter Arm der Terrorgruppe PKK zu sein. Der Präsidentschaftskandidat der HDP, Selahattin Demirtaş, sitzt seit November 2016 in Untersuchungshaft, unter Terrorverdacht. Sogar die rechtsnationale Kandidatin Meral Akşener, 61, die vermutlich Platz drei erreichen wird, hat verlangt, Demirtaş müsse seinen Wahlkampf in Freiheit führen dürfen. Gerichte lehnten das aber ab. CHP-Kandidat Ince hat Demirtaş in der Haftanstalt besucht, er musste sich danach von Erdoğan anhören, er habe Sympathien für "Terroristen".

Demirtaş, 45, hat sich deutlicher als andere Politiker seiner Partei von der PKK distanziert. Er hat auch zugegeben, die HDP habe 2015 einen Fehler gemacht, als sie nicht auch die PKK für erneute Gewalt in den kurdisch dominierten Städten im Südosten kritisierte. 2016 wurden viele kurdische Bürgermeister von der Regierung abgesetzt und staatliche Verwalter bestellt; der in der Stadt Van ließ Rosenwasser auf die Straßen sprengen, als der Wahlkämpfer Erdoğan kam.

Die Opposition warnt vor einer "Alleinherrschaft" Erdoğans, der im Falle seiner Wiederwahl mächtiger sein würde, als es je ein türkischer Politiker war. Ince hat gesagt, sollte die Opposition siegen, würde es zwei Jahre dauern, bis alles rückgängig gemacht wäre, was Erdoğan einführte, um seine Macht auszubauen. Andere glauben, das reiche nicht.

"Wer auch immer an die Macht kommt", die Türkei werde viel tun müssen, um ausländischen Investoren wieder Sicherheit zu geben, warnte ein Wirtschaftskommentator der Zeitung Hürriyet. Es sei zudem nötig, "die Beziehungen zu Europa wiederzubeleben". Die Türkei brauche Reformen, mehr Rechtsstaatlichkeit und eine funktionierende Gewaltenteilung. All das verlangt auch der größte Industrieverband, Tüsiad, von der Regierung, wer immer sie stellt. Unternehmer mit Nähe zu Erdoğan haben in den letzten 16 Jahren von Staatsaufträgen profitiert, besonders in der Bauwirtschaft. Von ihnen ist kaum Kritik zu erwarten.

Tüsiad forderte dennoch vor der Wahl ein Ende des Ausnahmezustands, der seit dem Putschversuch im Juli 2016 gilt. Das Ende des Notstands hat Erdoğan nun überraschend zugesagt. Am 17. Juli soll es so weit sein, dann stünde die Verlängerung an. Herausforderer Ince forderte ihn auf, den Ausnahmezustand gleich zu beenden. Er fragte: "Was hindert dich daran?"

Seit dem Putschversuch sind noch immer Tausende in Haft. Was ein Ende des Ausnahmezustands für sie bedeuten würde, ist unklar. Bis in die jüngste Zeit wurden Regierungskritiker festgenommen, zum Beispiel 14 Studenten der staatlichen Bosporus-Universität. Die Studierenden hatten gegen den Kriegseinsatz der Türkei in Syrien protestiert. Ihre Festnahme löste große Empörung aus, nach drei Monaten Untersuchungshaft wurden sie am 6. Juni freigelassen. Einer der Studenten, ein 22-Jähriger, sagte der Zeitung Cumhuriyet: "Im Gefängnis habe ich am meisten die Mathematik vermisst."

In Istanbul, wo Erdoğan einst Bürgermeister war und seine politische Karriere begann, hat er seinem Schwiegersohn Berat Albayrak den eigenen Platz auf der AKP-Liste überlassen. Die Opposition sieht das als Anzeichen für eine mögliche spätere "dynastische" Erbfolge. Albayrak, 40, war bisher Energieminister. Er hat auch einen Wahlspot gemacht. Darin sagt er, die Türkei stehe vor der Wahl zwischen "Sklaverei" und "Unabhängigkeit" - das erinnert an den alten CDU-Slogan: Freiheit oder Sozialismus. Auch 30 000 Syrer - von 3,5 Millionen Flüchtlingen - dürfen wählen. Sie werden wohl für Erdoğan stimmen - aus Dank für die türkische Staatsbürgerschaft.

© SZ vom 23.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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