Wende im Terrorprozess:Der abwesende Zeuge

Die Aussagen von Ramzi Bin al-Schibb, Logistiker der Anschläge vom 11. September, könnten auch dem bereits verurteilten Motassadeq helfen.

(SZ vom 12.12.2003) - Es war zunächst ein normaler Hafttag, dann bekam der Marokkaner Mounir el-Motassadeq am gestrigen Donnerstagmittag plötzlich Besuch von seinen Anwälten in der Strafvollzugsanstalt Fuhlsbüttel. Punkt 13 Uhr kam sein Verteidiger Gerhard Strate, eine halbe Stunde später erschien dessen Kollege Josef Gräßle-Münscher. Beide hatten eine frohe Botschaft: Wegen der Wende im Mzoudi-Prozess gebe es Aussichten, dass der Marokkaner sehr bald freikomme.

Motassadeq war im Februar vom 3. Strafsenat des Hanseatischen Oberlandesgerichts wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 3000 Fällen und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu 15 Jahren Haft verurteilt worden. Über die Revisionsanträge der Verteidigung wird der Bundesgerichtshof Anfang kommenden Jahres entscheiden. "Lass uns bremsen, keine Euphorie", sagte Gräßle-Münscher. "Ich finde keine Worte, keiner kann nachempfinden, was ich fühle", antwortete Motassadeq.

Seine Aussichten auf Freilassung aus der Haft sind stark gestiegen. Generalbundesanwalt Kay Nehm hatte im Mai erklärt, "dass die Unterschiede in Bezug auf die Tatbeteiligung bei Motassadeq und Mzoudi nur gering sind". Was für Mzoudi gilt, kann folglich auch für Motassadeq von Bedeutung sein.

Bin al-Schibb hätte Entlastungszeuge sein können

In beiden Verfahren spielte ein Zeuge eine Rolle, der vor Gericht nicht auftreten konnte: Der Jemenit Ramzi Bin al-Schibb, Logistiker der Anschläge vom 11. September. Er war der Verbindungsmann zwischen dem Todespiloten Mohammed Atta und Osama bin Laden, für den er auch Kurierdienste leistete; er steuerte von Hamburg aus die Geldströme der Terroristen, er kümmerte sich um die Gefolgsleute der Mörder. Vor dem 11. September verschwand er aus Deutschland und wurde im September 2002 in Pakistan festgenommen.

Seit Ende vergangenen Jahres erhalten das Bundeskriminalamt (BKA), der Bundesnachrichtendienst (BND) und das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) von den amerikanischen Behörden Zusammenfassungen der Aussagen Bin al-Schibbs. Die Amerikaner haben den deutschen Behörden aber verboten, das Material in Gerichtsprozessen gegen Terrorverdächtige zu verwenden.

Die Bundesanwaltschaft erhielt anfangs eine der Zusammenfassungen und erklärte dann, sie habe die Unterlagen vernichtet und wolle auch keine weiteren Protokolle, weil diese ansonsten auch dem Gericht vorgelegt werden müssten.

Aus Sicht der Verteidigung hätte der Zeuge Bin al-Schibb im Motassadeq-Prozess der Entlastungszeuge sein können. Aber alle Versuche, ihn in den Zeugenstand zu bekommen oder seine Aussagen zu erhalten, scheiterten.

"Das Bekanntwerden des Inhalts von Unterlagen, die dem Bundesnachrichtendienst über Befragungen des Ramzi Bin al-Schibb durch Stellen der Vereinigten Staaten von Amerika vorliegen, würde dem Wohl des Bundes Nachteile bereiten", teilte das Bundeskanzleramt im Januar dem 3. Strafsenat des Hanseatischen Oberlandesgerichts mit. Würde der BND sich über "die gegebene und auf deutscher Seite akzeptierte Auflage hinwegsetzen, hätte dies für die Zusammenarbeit von deutschen Sicherheitsbehörden mit US-amerikanischen Sicherheitsbehörden nicht abschätzbare negative Folgen".

Im Mzoudi-Prozess, der im August begann, ging es wieder um Bin al-Schibb, und die Verteidigung machte Punkte. Ende Oktober erklärte Heinz Fromm, der Präsident des BfV, als Zeuge, dass - anders als es in der Anklageschrift steht - die Anschläge vom 11. September in Afghanistan und nicht in Deutschland geplant worden seien. Die Annahme der Strafverfolger, die Zelle um Atta sei eine eigene inländische Terrorgruppe gewesen, brach damit zusammen.

Zweifel an Bin al-Schibbs Aussagen

Aber wusste Mzoudi von den Anschlagsplänen? Im November erhielten die Nachrichtendienste eine Zusammenfassung von Vernehmungen Bin al-Schibbs, aus der hervorging, dass drei der Todespiloten und Bin al-Schibb selbst in die Planungen eingeweiht gewesen seien - also nicht Mzoudi und auch nicht Motassadeq.

Die Generalbundesanwaltschaft erfuhr am 25. November von dem Papier, das vom BKA noch einmal zusammengefasst wurde. Ein Abteilungsleiter des BKA wies darauf hin, dass die "Auskunftsperson", also Bin al-Schibb, in der Vergangenheit "voneinander abweichende, teilweise widersprüchliche Aussagen gemacht" habe. Terroristen der al-Qaida hätten gelernt, "Richtiges mit Falschem" zu vermischen und zu lügen.

Aber die Bin-al-Schibb-Aussage musste vorgelegt werden, denn entlastende Aussagen dürfen Gerichten nicht vorenthalten werden. Im Zweifel für den Angeklagten. Er habe wieder Vertrauen in den Rechtsstaat Deutschland, hat Motassadeq gestern gesagt.

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