Weltkrisen:Der Erzähler

Peter Scholl-Latours Autobiografie ist postum erschienen. Seine Herkunft aus dem Elsass prägte sein Berufsleben. Sie machte seine Sätze plastischer und sie verhalf ihm zur Dialektik bei der Selbsteinschätzung.

Von Wolfgang Freund

Das vorliegende Opus magnum ist ein Torso, eine "Unvollendete" frei nach Franz Schubert. "Mein Leben" ging zu Ende, gerade als der Anlauf für die nächste Runde, den zweiten Band, begonnen hatte. Im "Epilog" des hier Gebotenen sagt es Cornelia Laqua, jahrzehntelang Mitarbeiterin und Lektorin von Peter Scholl-Latour. Sie zitiert zunächst den Autor: "Den zweiten Teil fangen wir mit dem amerikanischen Vietnamkrieg an und enden mit Afghanistan." Dann fährt sie fort: "Es war der 10. August 2014, mein letztes Gespräch mit Peter Scholl-Latour in seiner Rhöndorfer Wohnung, eine Woche vor seinem Tod."

Hat man erst einmal die Altersgrenze 90 überschritten, stirbt man mitunter plötzlich. Bei "Abu Scholl" (so zärtlich-respektvoll viele seiner arabischen Freunde) oder auch "Karl May II." (Version deutscher Kritiker, von denen es vor allem in akademischen Kreisen eine Handvoll gab) traf das zu. Jahrgang 1924 konnte er im März 2014 seinen neunzigsten Geburtstag feiern, und wenige Monate später war er endgültig verzogen, ad patres.

Ich "mag" Peter Scholl-Latour, und zunächst einmal ganz einfach als Mensch; denn er war auch so ein deutsch-französischer Mischmosch mit elsässischem Migrationshintergrund wie der hier Schreibende. Wir verstehen uns hinter den Kulissen auf Anhieb, die wir immer, und das ist sicher geschichtsbedingt, "a bissele bi dii vainqueurs" sein möchten. Das hat dann zur Folge, dass wir in Deutschland, wenn uns da etwas nicht passt, gerne "den Franzosen" herauskehren, während wir im sechseckigen Vaterland gewisse welsche Lebensformen, die uns gegen den Strich gehen, mit der deutschen Maxime kommentieren mögen: "Ordnung muss sein", beziehungsweise "müsste sein". Nicht selten lugt zwischen den Zeilen von Peter Scholl-Latours Schriften der mir so vertraute franko-germanische Januskopf hervor. Auch die andere elsässische Maxime "Ich bin dafür, dass wir dagegen sind, und wenn dann allesamt dagegen sind, dann mein Freund sind wir dafür!" schillert bei ihm hin und wieder durch. Hämische Kritiker nennen das Inkonsistenz oder Widersprüchlichkeit, ich würde hier eher von Dialektik bei der Selbsteinschätzung sprechen wollen. Es hängt mit den elsässischen DNA-Strukturen zusammen. In Straßburg hatte ich einen bereits emeritierten Hochschulkollegen, der während der nazideutschen Besatzung aktiv in der Résistance Bomben legte, während sein leiblicher Bruder einen Offiziersrang in der Waffen-SS bekleidet hatte.

Elsässer sind Angehörige eines merkwürdigen, während Jahrhunderten zwischen zwei Identitäten und Sprachen hin und her gerissenen europäischen Eingeborenenstammes. Sie nennen alle Franzosen, die westlich der Vogesen hausen, überheblich Français de l'intérieur. Wehe aber dem Deutschen, der es wagen würde, einem Elsässer seine 150-prozentige "francité" in Abrede zu stellen! Auch dieser Charakterzwiespalt gehört zu Peter Scholl-Latour. Französische Zitate schmücken häufig seine Schreibe, doch danach macht er sie dem Leser sofort auf Deutsch verständlich. Denn eines weiß er: Deutschsprachige Leser können nur noch in Ausnahmefällen Französisch. Die Zeiten Thomas Manns, der seine Madame Chauchat im "Zauberberg" über ganze Seiten hinweg Französisch ohne deutsche Übersetzung parlieren ließ, sind vorbei. Rechtsrheinisch kann man heute, außer dem hauseigenen Idiom, in der Regel allenfalls "Basic English".

Einen eurozentrischen Ideologen nannten ihn Kritiker gern - doch so simpel sah er die Welt nicht

Doch solche stilistischen Kavaliersdelikte erscheinen bedeutungslos angesichts jener Kritiken, die am in erster Linie deutschsprachigen Starjournalisten (Presse, Rundfunk und Fernsehen) und politisch-zeitgeschichtlichen Sachbuchautor Peter Scholl-Latour geübt werden. Er sei ein eurozentristischer Ideologe, der den Umgang mit der Dritten Welt (Vietnam, Naher Osten, Nordafrika, Schwarzafrika) dahingehend missbraucht habe, diesen Weltgegenden das "freiheitlich-westliche" Zivilisationsmodell in allen Tonarten unterzujubeln. Er sei im Grunde nichts anderes als ein intellektueller Neoimperialist, für den "gute Unterentwickelte" nur solche sein könnten, die sich der westlichen Überlegenheit bei allen sozialen, kulturellen und politischen Erscheinungsformen bewusst blieben und vom Ehrgeiz getragen wären, diesen existenziellen Zustand selbst zu erreichen.

Indessen, so eingleisig kann es im Innern der Scholl-Latour'schen Seele letztlich nicht ausgesehen haben. Dazu hatte er viel zu viele ihm wohlgesonnene Gesprächspartner, ja Freunde, unter den Großen gerade jener Länder und Weltgegenden, wo ganz anders gedacht wurde: Ho Chi Minh, Vo Nguyen Giap, Mao Zedong, Gamal Abdel Nasser, Ayatollah Chomeini, und wie sie alle heißen. Andere Kritiker - etwa solche aus der deutschen akademischen Orientalistenwelt - unterstellten ihm mangelnde Arabischkenntnisse trotz eines Diploms in Arabistik und Islamkunde, dass er nach einem zweijährigen Zusatzstudium (1956-1958) im Libanon, am Sprachzentrum Bikfaya der Beiruter Université Saint-Joseph, hatte erwerben können. Ganz so schlimm kann es mit Peter Scholl-Latours Unkenntnis des Arabischen also nicht gewesen sein.

Außer dem deutsch-französischen Gemenge gab es ein weiteres, immer wieder aufgegriffenes Thema im Innenleben des Peter Scholl-Latour, der die Ausschlagsrichtung seiner persönlichen Kompassnadel entscheidend bestimmt hatte: Seine Mutter war Jüdin. Sie stand damit während des Dritten Reiches im Fadenkreuz besonderer staatlicher Aufmerksamkeiten. Und er mit ihr. Peter Scholl-Latours Bildungsweg ins Erwachsenendasein hinein war gemischt, wie alles an ihm: in Deutschland geboren, teilweise deutsch-französischsprachige Gymnasialzeit an einem Jesuitenkolleg im schweizerischen zweisprachigen Fribourg, doch kriegsbedingtes Abitur im "heimatlichen" Kassel und schließlich während der letzten Weltkriegsmonate Gestapo-Haft infolge der gerade angesprochenen "rassischen" Belange. Eine Flecktyphus-Infektion brachte ihn jedoch nicht ins KZ, sondern in ein Krankenhaus. Nach der Genesung 1945 war der Krieg in Europa zu Ende, und Peter Scholl-Latour meldete sich freiwillig - er war ja "auch" Franzose - bei einer französischen Armeeeinheit, um in Indochina eingesetzt zu werden. Zum Journalisten für deutsche Zeitungen, Rundfunk- und Fernsehanstalten mauserte er sich von 1950 an und sollte dies von da an lebenslang tun. Die französische Armee-Episode hat ihm bei "Freunden", die ihm nicht besonders gut gesinnt waren, das Gerücht angeheftet, er sei 1945 nach Kriegsende als Deutscher zur französischen Fremdenlegion gegangen und auf diesem Wege nach Indochina gekommen. Das ist falsch. Peter Scholl-Latour war aufgrund seiner elsässischen Eltern de jure auch Franzose und, als er sich bei der französischen Armee freiwillig gemeldet hatte, einfach seiner französischen Wehrpflicht nachgekommen.

Weltkrisen: Peter Scholl-Latour, Mein Leben. C. Bertelsmann Verlag 2015. 448 Seiten. 24,99 Euro. Als E-Book: 19,99 Euro.

Peter Scholl-Latour, Mein Leben. C. Bertelsmann Verlag 2015. 448 Seiten. 24,99 Euro. Als E-Book: 19,99 Euro.

Peter Scholl-Latours "Sprache" ist nicht durchgehend gepflegt-intellektuell im kostbaren Sinne. Nicht selten trägt er dick auf und überzeichnet gerne "idealtypisch", um es mit einem Begriff der Max Weber'schen Soziologie zu sagen. Regelmäßig gefällt er sich in etwas aufdringlichen Selbstbeweihräucherungen. Da und dort nähert er sich gefährlich einem Stil, der ein weltweit bekanntes deutschsprachiges Massenblatt prägt. Aber es ist nicht die Regel. Vor allem der Buchautor kann auch anders. Seine Prosa rauscht flüssig dahin, angereichert von jenem Umstand, dass er - wie viele seiner elsässischen Landsleute, die das Deutsche und das Französische gleichermaßen beherrschen - ununterbrochen in beiden Sprachen denkt und fühlt, auch wenn er sich nur in einer der beiden ausdrückt. Die Sätze solcher "Bilingualen" werden plastischer, farbiger und damit für den Leser attraktiver.

Er übertreibt gern, aber im Grunde trifft seine Analyse (fast) immer ins Schwarze

Auch war sein Erfolgsgeheimnis im Umgang mit soziokulturell und politisch unterschiedlich Gestrickten ganz einfach. Peter Scholl-Latour hat niemals versucht, sich anders zu geben, als er effektiv war: ein Vertreter des Westens, Europas. Er machte seinen Gesprächspartnern, auch solchen, die ihn im Grunde mit der Pinzette angefasst haben müssten, nie etwas vor hinsichtlich eigener Positionen. Ein Gegenüber fühlte spontan: Der Mann "lügt" nicht, weder im Umgang mit anderen noch sich selbst gegenüber. Häufig übertreibt er, überzeichnet Charakterzüge bei Staatschefs oder Revoluzzern, mit denen er Umgang hatte; aber im Grunde trifft er (fast) immer ins Schwarze, erreicht des Pudels Kern, und seine rhetorisch-stilistische Taktik erweist sich als geschickt gewählte pädagogische Strategie, mittels einer Methode, die er selbst in einem kurzen Satz auf den Punkt bringt: "Je n'enseigne pas, je raconte - Ich belehre nicht, ich erzähle."

Man legt "Mein Leben" frustriert zur Seite; denn man hat Appetit bekommen auf den zweiten Band . . . , den es vermutlich nie geben wird.

Wolfgang Freund ist deutsch-französischer Sozialwissenschaftler mit Schwerpunkt ,,Mittelmeerkulturen". Zahlreiche Publikationen auf Deutsch, Französisch und Englisch. Er lebt in Südfrankreich.

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