Welthungerhilfe:"Der größte vermeidbare Skandal"

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Einiges wurde erreicht, doch die Welt kommt im Kampf gegen Unterernährung viel zu langsam voran. Selbst Atommächte haben hungernde Bürger.

Von Stefan Braun, Berlin

Bärbel Dieckmann ist eine ausgenommen freundliche Frau. Deshalb lobt die 67-jährige Präsidentin der Welthungerhilfe zunächst das Erreichte. Und sie sagt, dass sie ob mancher Verzögerungen beim Kampf gegen den Hunger zwar ab und zu zornig werde, diese Wut aber am liebsten "in positive Handlungen" ummünze. Optimistisch soll das klingen, auch mit Blick auf den neuen Welthungerindex, den sie am Dienstag in Berlin vorstellt. Doch dann, fast nebenbei, fügt sie noch an, dass "die Menschen sich nicht damit begnügen, dauerhaft benachteiligt zu werden".

Ein ruhiger Satz auch das. Aber er hat es in sich. Denn mit einem Mal steckt Dieckmann mitten drin in Europas Flüchtlingsdebatte. Und sie macht unmissverständlich deutlich, dass angesichts von Hunger und Armut niemand glauben sollte, die Menschen in Afrika würden sich ihrem Schicksal einfach ergeben. "Sie werden sich, wenn es nicht besser wird, auf den Weg machen. Und wir würden das auch tun." Klarer kann man nicht zum Ausdruck bringen, wie groß das Problem ist - und wie wichtig noch immer der Kampf gegen den Hunger. Die freundliche Frau Dieckmann kann ziemlich hart sein.

Der Grund dafür liegt auf der Hand: Auch nach dem jüngsten Index der Welthungerhilfe und des Internationalen Forschungsinstituts für Ernährung und Entwicklung (Ifpri) gilt die Situation in 50 Staaten bis heute als "ernst" oder "sehr ernst". Besonders betroffen sind Tschad, Zentralafrika, Jemen, Sambia, Madagaskar, Sierra Leone und Haiti. Darüber hinaus gibt es vierzehn Staaten, darunter Somalia, der Sudan, der Südsudan oder auch Libyen, die zwar mindestens genauso schwer vom Hunger bedroht sind, aber keine verlässlichen Daten mehr liefern können.

Maßstab für den Index und das Maß der Probleme sind vier Kriterien, die in allen Ländern geprüft und gewichtet wurden. Wie hoch ist die Kindersterblichkeit? Wie hoch ist die Zahl akut unterernährter Kinder? Wie viele Kinder gibt es mit chronischen Wachstumsproblemen, die aufs Essen zurückgehen? Und wie unzureichend ist die Essensversorgung grundsätzlich? Die Industriestaaten sind nicht überprüft worden, sie gelten als hungerfrei. Deshalb hat den positiven Spitzenplatz des Indexes nicht ein Land wie Deutschland oder Frankreich oder Norwegen inne, sondern die Slowakei, die offenbar mal Probleme hatte, aber keine mehr haben dürfte.

Interessant am Ranking sind die Positionen anderer Staaten, beispielsweise Indiens. Es rangiert weit hinten und dabei nur einen Platz vor Nordkorea und einen hinter Tansania. "Das darf nicht mehr sein, Indien ist eine Atommacht", klagt Klaus von Grebmer vom Ifpri. "Wir machen das Ranking auch in der Hoffnung, dass Staaten alles daran setzen, beim nächsten Mal besser auszusehen."

Staaten wie Indien. Wie nötig das ist, zeigt auch eine weitere Zahl: Noch immer sind weltweit 795 Millionen Menschen akut von Hunger betroffen. Und das, obwohl sich die Vereinten Nationen das Ziel gesetzt haben, den Hunger weltweit bis 2030 zu besiegen. Dieckmann und Grebmer wollen dieses Ziel nicht aufgeben und heben hervor, dass manches geschafft und verbessert wurde. Aber sie mahnen, dass die Geschwindigkeit massiv erhöht werden müsse, wenn das Ziel erreicht werden soll. Sei es durch eine bessere Beratung der einfachen Bauern, dort, wo es wie in Indien vor allem um eine bessere Organisation gehe. Oder sei es durch ein anderes Verhalten der Industrieländer, die es der Landwirtschaft in vielen Staaten durch ihre Exporte schwer machen.

Gerd Müller, der deutsche Entwicklungsminister, fasste am Dienstag zusammen: "Hunger ist der größte vermeidbare Skandal auf unserem Planeten." Dieckmann denkt genauso. Sie würde es nur bescheidener ausdrücken.

© SZ vom 12.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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