"Welt im Aufstand":Es ist viel passiert

"Welt im Aufstand": Simon Hall: 1956 - Welt im Aufstand. Aus dem Englischen von Susanne Held. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2016. 479 Seiten, 24,95 Euro. E-Book: 19,99 Euro.

Simon Hall: 1956 - Welt im Aufstand. Aus dem Englischen von Susanne Held. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2016. 479 Seiten, 24,95 Euro. E-Book: 19,99 Euro.

Simon Hall schildert das Jahr 1956 als "kollektives Drama" - ob und wie all diese Ereignisse zusammenhingen, bleibt allerdings im Dunkeln.

Von Rainer Stephan

Die Lust aufs Neue treibt auch die Historiker an, zum Glück. Die Geschichte wäre ein ziemlich langweiliger Forschungsgegenstand, wenn die Wissenschaftler nicht immer wieder versuchten, unbekannte Fakten herauszufinden oder bekannte neu zu interpretieren. Dass Historiker aber im ganz großen Stil unter die Entdecker gehen, kommt eher selten vor. Hier tut es einer - und wie! Der britische Historiker Simon Hall nimmt für sich in Anspruch, ein komplettes Jahr neu entdeckt zu haben, obendrein und überraschenderweise eines, das ein Teil seiner Leser noch persönlich miterlebt hat: 1956.

Was haben wir bislang übersehen an 1956? Halls deutscher Verlag lässt es ganz groß krachen und teilt im ersten Satz des Klappentextes mit: "1956 war wie 1789 und 1848 ein Revolutionsjahr, das die Welt von Grund auf veränderte." Der Autor selbst, er lehrt an der Universität Leeds, bleibt etwas bescheidener. Er redet vom "kollektiven Drama dieses Jahres", das leider - Belege bleibt Hall schuldig - auch innerhalb der Historikerzunft weitgehend in Vergessenheit geraten sei, auch weil stattdessen das Jahr 1968 "von vielen (und sehr lautstark) als ein weltweites 'Jahr der Revolte' bezeichnet wird".

Kein Zweifel: Im Jahr 1956 ist tatsächlich eine Menge Aufregendes, Umwälzendes oder Aufständisches passiert. In der Sowjetunion etwa brach Nikita Chruschtschow mit dem Stalinkult und sorgte so unfreiwillig mit dafür, dass sich in Polen und in Ungarn die Menschen gegen ihre moskauhörigen Funktionärsdiktaturen erhoben - mit besonders blutigen Folgen für Ungarn, wo der Aufstand erst durch den Einmarsch sowjetischer Truppen gestoppt werden konnte.

In Ägypten, wo Präsident Gamal Abdel Nasser 1956 den Suez-Kanal verstaatlicht und damit sein Land endgültig unabhängig vom Westen gemacht hatte, versuchten britische, französische und israelische Truppen mit einer (geheim konzertierten) Militäraktion, wieder die Kontrolle über das Land zurückzugewinnen. Tunesien und Marokko wurden in die Unabhängigkeit entlassen, in Algerien trat der Aufstand gegen das französische Regime in seine heiße und blutigste Phase.

Vollends Unerhörtes trug sich im US-Bundesstaat Alabama zu, wo Martin Luther King begann, den Aufstand der schwarzen Bevölkerung gegen eine extrem diskriminierende Rassentrennungspolitik zu organisieren. Massive Widerstände gegen die staatliche Apartheid regten sich auch in Südafrika. Und schließlich zeigte, zuerst in den USA, die bis dahin mehr oder weniger konform lebende Jugend ihre Krallen, wenn auch einstweilen nur auf dem Feld der Popkultur: Elvis Presleys Gesang und sein als sexuell anzüglich empfundenes Auftreten zogen Zehntausende kreischender Teenies in den Bann und führten zu Auftrittsverboten, die wiederum Gegen-Randale provozierten.

Simon Hall erzählt all das und mehr in detailfreudiger Anschaulichkeit. Was seine spektakuläre Jahresschau allerdings kaum vermitteln kann, sind plausible Zusammenhänge zwischen den geschilderten Ereignissen, die über die bloße Assoziation "Aufruhr" hinausgehen würden. Allenfalls suggeriert der Autor solche Kontexte, indem er das Buch - und damit das Jahr 1956 - in eine Art dynamisches Kapitel-Schema gliedert: "Winter - Die alte Ordnung bekommt Risse", "Frühling: Die Sehnsucht nach Freiheit", "Sommer: Der Geist der Revolte", "Herbst: Revolution und Reaktion".

Das ist nun wahrlich Etikettenschwindel - nicht nur, weil sich die im Buch geschilderten Fakten selbst keineswegs in eine solche Revolten-Chronologie eingliedern lassen, sondern vor allem, weil bei näherem Hinsehen ein Teil dieser Aufbruchsbewegungen schon vor 1956 einsetzte, und andere erst viel später ihren Höhepunkt erreichten.

Die entscheidende Kritik an dieser Art von Geschichtsschreibung hat der italienische Marxist Antonio Gramsci formuliert: Manche Historiker erzeugten "den irreführenden Eindruck", bestimmte Jahre seien "wie Berge, über die sich die Menschheit hinwegbewegen müsse, um in einer veränderten Welt anzukommen". Merkwürdigerweise zitiert Hall selbst diesen Einwand - und kommentiert dann, Gramscis Worte seien "auf taube Ohren gefallen".

Womit er offenbar auch seine eigenen Ohren meint.

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