Wehrhahn-Prozess:Der Zeuge aus dem Nichts

Prozess gegen 'Wehrhahn-Bomber'

Nur im Gerichtssaal unter enger Beobachtung: Der Angeklagte S. ist derzeit wieder auf freiem Fuss.

(Foto: Federico Gambarini/dpa)

Das Gerichtsverfahren wegen des Bombenanschlags auf jüdische Sprachschüler schien auf einen Freispruch hinauszulaufen. Das könnte sich nun ändern.

Von Joachim Käppner, Düsseldorf

Eines zumindest ist nun gewiss in diesem Prozess voller Ungewissheiten am Düsseldorfer Landgericht: So hatte sich der Vorsitzende Richter Rainer Drees die Schlussphase des Verfahrens nicht vorgestellt, als er Mitte Mai den Angeklagten Ralf S. auf freien Fuß setzen ließ. Es bestehe, so die für die meisten Prozessbeteiligten überraschende Begründung, kein dringender Tatverdacht mehr, dass S. im Juli 2000 am Düsseldorfer S-Bahnhof Wehrhahn den Bombenanschlag begangen habe, bei dem zehn Menschen teils schwer verletzt wurden. Deshalb ist er des Mordversuchs aus fremdenfeindlichen Motiven angeklagt. Schien eine Verurteilung des Angeklagten durch die Haftentlassung in weite Ferne gerückt zu sein, so tauchte gerade wegen der Nachricht, S. sei wieder frei, ein neuer Belastungszeuge auf, wie aus dem Nichts.

Dieser Zeuge namens P. soll sich daraufhin erst, als er im Fernsehen die Nachricht von der Freilassung gesehen habe, zur Aussage entschlossen haben. Bis dahin habe er geglaubt, dass Ralf S. ohnehin verurteilt werden würde. Dem Zeugen P. zufolge soll S. ihm vor einigen Wochen noch in der U-Haft gestanden haben, aus Hass auf Juden den Anschlag begangen zu haben. Außerdem habe der Untersuchungshäftling angekündigt, den Staatsanwalt umzubringen, den Vertreter der Anklage. P. selbst soll kommenden Donnerstage aussagen, da Anklage und Nebenkläger erst schriftliche Aufzeichnungen ansehen wollen, die P. vom Gespräch mit dem Angeklagten angefertigt hat. Man habe ihnen diese nicht zukommen lassen.

So blieb es einem Justizvollzugsbeamten und einem Anstaltspsychologen vorbehalten, als Zeugen wiederzugeben, was P. zu ihnen gesagt haben soll. Ihnen zufolge hat sich der Angeklagte beim Hofgang mit P. im Justizkrankenhaus Fröndenberg selber der Tat bezichtigt und einen Anschlag auf den Ankläger angedroht. Er sei so vertraulich geworden, weil er P. auf Grund von dessen Tätowierungen irrtümlich für einen rechtsextremen Gesinnungsgenossen gehalten habe. P. soll zum Beispiel das Tattoo "Skin" auf dem Handrücken tragen, vertrete aber nach eigenem Bekunden keine rechten Ansichten. P. habe weiter ausgesagt, dass es zwar gegen seine Ehre gehe, gegen einen Mithäftling auszusagen, er aber nicht wolle, dass S. ungestraft davonkomme.

Wie glaubwürdig diese aus zweiter Hand wiedergegebenen Aussagen P.s sind, und ob das Verfahren mit ihnen vor einer weiteren Wende steht, wird das Gericht noch klären müssen. Erstaunlich genug bleibt, dass der Staatsanwalt erst mit einer Verspätung von etlichen Tagen über die angeblichen Mordpläne gegen ihn informiert wurde.

Der Anschlag am S-Bahnhof Wehrhahn hatte vor 18 Jahren bundesweit Entsetzen ausgelöst. Die Tat trug damals mit zu dem Aufruf des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD) bei, Deutschland brauche einen "Aufstand der Anständigen" gegen rechte Gewalt. Die Opfer waren überwiegend jüdische Sprachschüler aus Osteuropa, eine junge Frau verlor ihr ungeborenes Kind. S. hatte damals einen Militarialaden betrieben, der in der Nähe der Haltestelle gegenüber der Sprachschule lag, die die Anschlagsopfer besuchten.

Die Kammer hatte im Lauf des Verfahrens mehrere Belastungszeugen für unglaubwürdig erachtet, darunter eine frühere Freundin von S., die die Bombe in seiner Küche gesehen haben will, was sie der Polizei im Jahr 2000 allerdings nicht erzählt hatte. Auch die Aussage eines früheren Mithäftlings, dem S., als er wegen nicht bezahlter Schulden einsaß, erzählt haben soll, er habe "mit Sprengstoff die Kanaken weggesprengt", überzeugte die Kammer nicht. Die Aussage dieses Zeugen hatte den Prozess überhaupt erst ermöglicht, fast 18 Jahre nach der Tat. S., ein ehemaliger Zeitsoldat, der schon 2000 als Verdächtiger und Ausländerfeind mit Verbindungen zu Neonazis galt, bestreitet aber jede Schuld. Und auch P. ist schwerlich ein Traumzeuge der Anklage: Er sitzt in U-Haft, weil er auf der Flucht vor der Polizei eine ältere Dame als Geisel nahm. Dem Anstaltspsychologen zufolge sei P. depressiv gewesen. Von seiner Aussage kommende Woche wird nun viel abhängen.

S. betritt den Saal am Freitag verkleidet: mit Hut, Sonnenbrille und Schal. Er ist nun, auch wenn der Prozess nach Aufhebung des Tatverdachts weiterläuft, wieder frei und nutzt die Zeit auf seine Weise. Via Internet verbreitet er, der Staatsanwalt trachte ihm nach dem Leben.

Erstmals sagten am Freitag auch Überlebende des Anschlags aus. Lange dauerte das nicht. Die Bombe war durch Fernzündung ausgelöst worden, den Angeklagten hatten sie am Tatort nicht gesehen. Es hatte wohl einmal eine Konfrontation zwischen Sprachschülern und Männern aus dem Militarialaden gegeben. Aber das war ein früherer Sprachkurs gewesen, nicht jener, den der Anschlag traf.

Sie habe nur einen Knall gehört, berichtete die heute 42-jährige Zeugin A., die als Ärztin in Nordrhein-Westfalen arbeitet: "Und dann sah ich die anderen am Boden liegen und stöhnen." Dass ihr ein Metallsplitter eine Sehne am Bein durchtrennte, bemerkte sie im ersten Schock nicht. Bis heute habe sie manchmal Schmerzen beim Gehen. Bis zu dem Moment, als die Bombe hochging, habe sie in Deutschland weder Probleme gehabt noch Anfeindungen erlebt. Alle drei Zeugen erzählten von Splittern in Rücken und Beinen, von den körperlichen Folgeschäden. Was es in der Seele anrichtet, Opfer eines Terroranschlags zu werden, der noch immer ungeklärt ist - danach fragte am Freitag niemand.

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