Wege nach Europa:Die große Flucht

Florian Hassel

Der Uferwald am Fluss Tisa: "Dschungel" nennen die Flüchtlinge das Grenzgebiet zwischen Serbien und Ungarn. Das dichte Gestrüpp schützt vor Polizisten - aber nicht vor Räubern.

(Foto: Florian Hassel)

Im Saarland verteilen Freiwillige Essen - in Serbien kämpfen Menschen um jeden Tropfen Trinkwasser. SZ-Reporter begleiten Flüchtlinge in Europa und erzählen von Leid und Hoffnung.

Sie sind auf der Zielgeraden. Die letzten Meter ins gelobte Land sind gemessen an dem, was viele Menschen auf ihrer oft Jahre dauernden Flucht nach Europa erlebt habe, in lebensfeindlichen Wüsten und auf schwankenden Booten, vergleichsweise einfach. Zug oder Bus, Taxi oder der Van eines Schleppers?

Die Routen aus Afrika nach Europa sind täglich Gegenstand der großen Politik, die Toten im Mittelmeer, die vollen Auffanglager. Wie sichert man die Grenzen des Kontinents, wer nimmt wen auf von den Flüchtlingen und wenn ja, wie viele? Die Routen von den Außenposten der EU, von Ungarn, Spanien, Griechenland oder Italien ins reiche Herz der freien Welt, nach Deutschland, Schweden, Holland - sie sind der kleinteilige Alltag der großen Flucht.

Mehrere Tage lang sind sechs SZ-Reporter mitgezogen im Treck durch Europa. Sie haben Flüchtlinge angesprochen und gefragt, ob sie sie ein Stück weit begleiten dürfen. Hier schildern sie ihre ganz persönlichen Eindrücke.

Nadia Pantel, Kosovo

Ein junger Mann in einem Straßencafé winkt mich rüber an seinen Tisch. Tag zwei in Kosovo, in der Kleinstadt Prizren. Inzwischen hat es sich herumgesprochen, dass da diese Deutsche herumläuft, die über Flucht recherchiert. Ich trage meine Limonade an seinen Tisch und er erzählt, wie er von Pristina über Serbien bis nach Österreich gekommen ist. Zu Fuß über die ungarische Grenze. Im Winter. "Warum bist du wieder hier?", frage ich. "Ich wollte doch gar nicht bleiben. Ich wollte nur meine Freundin besuchen, die lebt in Österreich." Sein Visumsantrag war abgelehnt worden. Die beiden haben sich vor zwei Jahren in Griechenland kennengelernt. Jeden Abend skypen sie. Drei Zigaretten lang zeigt er mir Fotos von ihnen beiden bei österreichischen Schneespaziergängen. Nicht jede illegale Reise ist eine Flucht.

Christian Wernicke, Lebach bei Saarbrücken

Sie sind für mich die stillen Helden von Lebach: Hunderte freiwillige Helfer, die im Aufnahmelager anpacken und den Flüchtlingen beistehen. Zum Beispiel Jörg Jager, der 47-jährige Schlosser, der sich im Urlaub als Rot-Kreuz-Koch verdingt und täglich für eine warme Mahlzeit sorgt: Mal 350 Rationen Linsensuppe, mal "Risotto Bombay". Oder Esther Braun, die 38-jährige Krankenschwester, die täglich nach Feierabend in die Zeltstadt kommt: Mal besorgt sie nur einem Mann aus Guinea ein französisches Buch gegen die Langeweile ("Le Petit Prince"), mal treibt sie - per Spendenaufruf - Berge von Kleidung zusammen. Und als im Mai ein paar Hooligans gegen die Ausländer protestierten, organisierte die engagierte Linke die Gegen-Demo. Mehr als 500 Lebacher kamen. "Wir waren stolz - denn wir waren mehr, als wir selbst geglaubt hatten," sagt Braun, deren Eltern sich vor 50 Jahren als Flüchtlinge (Mutter aus der Sowjetunion, Vater aus Paraguay) in der Landesaufnahmestelle kennenlernten.

Auch Ali Gündesli, der 28-jährige Versicherungsmakler, der am Sonntagabend 500 türkische Pizzen an Migranten verteilt, verspürt eine Bindung zum Lager: Als kurdisches Flüchtlingskind lebte er acht Jahre lang in Lebach. Keiner der drei erwartet Dank. Und keiner gab gern seinen Namen preis: "Ich bin doch nur einer von vielen", sagten sie mir unisono, "und wehe, Sie schreiben, ich sei ein Held!".

Andreas Glas, Passau

Was mich beeindruckt hat: Wie locker viele Menschen in und um Passau mit den Flüchtlingen umgehen. Einmal stand ich im Garten eines Ehepaars, das neben der deutsch-österreichischen Grenze wohnt. Reinhold und Sieglinde Jungwirth erzählten mir, dass sie kürzlich einen leeren Schlafsack in ihrem Garten gefunden haben, gleich neben den Hortensien. Daneben lagen zerfetzte Papiere der ungarischen Behörden, darauf stand der Name eines 19-jährigen Pakistaners. Sie haben die Sache dann der Polizei gemeldet, den Schlafsack entsorgt, sich nicht weiter drum gekümmert. "Hier kommen jeden Tag 500 Flüchtlinge über die Grenze, was ist ein einzelner Schlafsack schon dagegen", sagte Reinhold Jungwirth. Und wenn morgen wieder ein Schlafsack im Garten liegt, wenn diesmal auch jemand drin schläft? "Dann", sagte Jungwirth, "kriegt er erst mal eine Brotzeit".

Peter Burghardt, Ungarn

Ich war in den vergangenen Jahren in vielen Aufnahmelagern. Mazedonien, Algerien, Haiti. Aber ich habe selten so eine Dynamik erlebt wie nun in Südungarn. Als sei da ein Ventil geöffnet worden. Jeden Tag überqueren viele Hundert, wahrscheinlich weit mehr als tausend Menschen von Serbien aus diese noch irgendwie grüne und bald mit Stacheldrahtzäunen bestückte Grenze ins Refugium EU. Sie kommen aus Syrien, Afghanistan, Irak oder Pakistan und wollen nach Gemany, Italia, Sweden. Schaut man wie durch ein Zoom in einzelne Gesichter und hört einzelne Geschichten, dann ahnt man, dass diese Völkerwanderung der Verzweifelten mit Schneisen und Regeln kaum aufzuhalten sein wird.

"You know Taliban?", fragte mich ein todmüder Afghane aus Kundus, wo die Bundeswehr stationiert ist. "Armee, Polizei, IS, alles Terroristen", erläuterte mir ein wütender Iraker. "Syrien ist überall unsicher", erklärte mir der ausgezehrte Syrer Raschid aus Damaskus, der in mehreren Tagen Warterei am Bahnhof von Szeged zum Freund wurde und dessen Namen ich sicherheitshalber ändere. Flucht bedeutet zwar auch lost in translation, denn wer spricht schon gleichermaßen Ungarisch und Arabisch? Doch jedes Wort Englisch oder was auch immer und jede Geste hat das Zeug zum großen Glück. "Germany is good, you are good", sagte mir Raschid zum Abschied. Von überfüllten und brennenden Flüchtlingscamps weiß er nichts. "You are my friend." In einem Zug sprühte sich ein anderer Syrer, der gar kein Englisch sprach und sich tagelang nicht waschen konnte, mit geschenktem Parfüm ein. Dann richtete er den Flakon strahlend auf mich, und so stiegen wir beide schwitzend und duftend aus, am Bahnsteig gab es drei Küsschen auf die Wange.

Florian Hassel, Serbien

Was mir überall in Serbien augefallen ist, ist der existenzielle Kampf der Flüchtlinge um Trinkwasser. Sie kommen schon total dehydriert aus Mazedonien an und bekommen in den Lagern in Preševo oder Kanjiza oft weder zu essen noch zu trinken. Dann irren sie auf der Suche nach Wasser in den Städten herum, aber entweder haben sie kein Geld oder nur Euros oder Dollars, mit denen sie hier in Serbien nichts kaufen können. Nur in Belgrad hat man einen großen Wassertank für die Flüchtlinge aufgestellt, aber das ist eigentlich auch kein Trink-, sondern Waschwasser.

Ann-Kathrin Eckardt, Italien

Gebrael und seine Frau Selam hatten vergessen, ihr Zugticket abzustempeln, ich auch. Ein Sprint zurück zum Stempelautomat auf dem Bahnhof in Mailand - so hatten wir uns kennengelernt. Ob man sie auf ihrer Flucht begleiten dürfe? "Du willst mit uns kommen?", fragte Gebrael in ganz ordentlichem Englisch. "Setz dich." Die beiden kommen aus Eritrea und wollen zusammen mit der Cousine Selams nach München. Oder vielleicht auch nach Hamburg. Oder nach Münster, da lebt schon ein Bruder der Cousine.

Über Deutschland wissen die drei eigentlich so gut wir gar nichts - nur, dass es dort Arbeit gibt. Wo es am schönsten ist, fragt mich Gebrael. "Ich finde in München." Aber der Bruder der Cousine sagt, in Hamburg bekomme man schneller eine Arbeitserlaubnis. Die Busse dorthin sind allerdings alle ausgebucht. Also doch nach Münster, sagt der Bruder. Während der vier Tage, die wir zusammen verbringen, wird mir klar, von wie vielen Zufällen und Gerüchten es oft abhängt, wo die Flüchtlinge ihr neues Leben starten. Für Gebrael und Selam beginnt es mit einem großem Wiedersehen.

Ich bin gespannt, wie es Gebrael und Selam in einem Jahr gehen wird. Wir werden auf jeden Fall in Kontakt bleiben.

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