Was hinter den bekannten Bildern steckt:Anatomie eines Attentats

Selbstmordanschläge sind unergründlich — durch ihre Häufung aber auch seltsam gewöhnlich. Das Protokoll eines Sanitäters.

Von Hans von der Hagen

Der Schrecken derartiger Attentate ist von eigener Art. Sie treffen wahllos jeden und sicher geglaubte Orte.

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Viele verlieren dabei ihr Leben, und sei es nur, weil sie so entstellt sind, dass sie sich nicht mehr in die Öffentlichkeit trauen.

Die Bilder sind bekannt. Leute rennen umher, Helfer versuchen die Verletzten zu versorgen — das Chaos scheint perfekt. Und doch: der Eindruck täuscht. Gerade in Ländern wie Israel, die besonders häufig von Suizidattentaten betroffen sind, hat sich eine ganze Maschinerie herausgebildet, die nur eines erreichen will: rasch wieder normales Leben ermöglichen.

Einer, der dazu gehört und diese Maschinerie beschreiben kann, ist Tamir Sinai. 35 Jahre alt, Sanitäter, in Deutschland aufgewachsen, ausgewandert nach Israel und zur Zeit wieder in München als Gastwissenschaftler.

Der Ort: der Jerusalemer Markt, beliebtester Einkaufstreffpunkt der Stadt.

Die Zeit: Freitag, 6. November 1998, kurz vor 10 Uhr morgens, dann also, wenn viele die Besorgungen für das gegen Freitagmittag beginnende Wochenende machen.

Für Tamir Sinai war es das erste Mal, dass er als Sanitäter ein solches Ereignis miterlebte.

Wir saßen da, etwa 10 Uhr, als der Spruch über Lautsprecher kam: 'Alle Ambulanzen raus, alle Ambulanzen raus'. Ich sprang auf, lief zur Ambulanz herüber, habe aber nicht gewusst, was los ist. Das Mädel, mit dem ich zusammen gearbeitet habe, sie war Zivildienstleistende, fluchte den ganzen Weg. Da habe ich gefragt: 'Was ist, was ist?'. Sie meinte, 'ein Anschlag'. Sie hatte anscheinend schon mehrere mit erlebt. Der Fahrer ist sofort losgefahren, wie ein Besessener. Ich weiß noch, wir sind über eine Verkehrsinsel gefahren, quer, gesprungen, es ging viel schneller als sonst. Wir saßen hinten und wurden durchgeschüttelt, haben uns die Taschen vollgestopft mit Verbandsmaterial, die kugelsicheren Westen angezogen und alles vorbereitet. Zum Schluss die Gummihandschuhe. Sie sagte sofort: 'Zieh Dir zwei übereinander an'. Man arbeitet soviel, dass die sofort zerreißen. Ist der erste Verwundete versorgt, fleddert auch der erste Handschuh schon weg. Wir waren sofort da. Das Attentat hatte sich am Markt ereignet, die Ambulanzstation liegt sehr dicht, vielleicht nur eine Minute Fahrzeit entfernt. Das erste was ich bemerkte: Es war alles schwarzweiß. Ob es die Wahrnehmung war, oder der Pulverdampf — ich weiß es nicht.

Ein Augenzeuge, zitiert in israelischen Medien, nahm den Moment des Anschlags so wahr: "Ich befand mich gerade an einem der Marktstände und plötzlich gab es eine enorme Explosion. Dann war überall dieser absonderliche schwarze Rauch in der Luft. Für eine Minute war alles unheimlich still, die Leute standen unter Schock. Doch nach und nach begannen sie zu schreien. Die Ambulanzen trafen innerhalb kürzester Zeit ein."

Auf einen solchen Anschlag ist man immer vorbereit — und nie. Irgendwie glaubt man es zu kennen, es ist ständig im Fernsehen zu sehen, doch plötzlich steckt man selbst mitten drin. Es stinkt nach verbrannten Fleisch und das erste was man sieht, sind die Leute, die auf einen zurennen, oder besser: die wegrennen von dort. Die Polizei, die auch sofort da ist, will zunächst, dass alle den Ort verlassen. Auch wir, die Sanitäter, dürfen nicht sofort anfangen. Die Erfahrung hat gezeigt, dass oftmals die Anschläge nicht einzeln kommen, sondern dass irgendwo eine Bombe gezündet wird, alle in eine Richtung fliehen, und dann noch weitere Bomben explodieren. Die Polizei sichert das Gelände ab und erst die Bombenentschärfer geben das Gebiet frei.

In deutschen Zeitungen heißt es: "Der Nahost-Friedensprozeß hat durch ein Attentat in Jerusalem einen schweren Rückschlag erlitten. Bei der Explosion einer Autobombe auf dem Mechane-Jehuda-Markt kamen die beiden Attentäter ums Leben, 25 Passanten wurden verletzt. Der Wagen, der durch die Explosion völlig zerstört wurde, war an der Jaffa-Straße geparkt, einem der Hauptzugänge zum Markt."

Die ersten, die kamen, waren blutüberströmt. Ich habe einen versorgt mit klaffender Kopfwunde. Bei Schädelverletzungen verliert man immer sehr viel Blut, es ist ein halber Liter, den man in der Kopfhaut hat. Den Verletzten habe ich mit großen Verbandspäckchen verarztet und ihn dann weitergereicht an eine Ambulanz, die weiter hinter uns stand. Als Sanitäter hat man das Glück, dass man seine Gedanken nicht auf das Ereignis an sich, sondern auf die Arbeit konzentrieren muss.

Die beiden getöteten Attentäter waren Palästinenser. Einer von ihnen wurde in dem Tatauto gefunden, der zweite wenige Meter von dem Fahrzeug entfernt. Nach Erkenntnissen der Ermittler wollten die Attentäter ursprünglich zwei mit Sprengstoff gefüllte Koffer auf dem völlig überlaufenen Marktplatz abstellen. Doch dann ist im Wagen vermutlich ein Feuer ausgebrochen, das zu einer vorzeitigen Explosion geführt hat. Die Untergrundorganisation Dschihad bekannte sich zu dem Anschlag. Eine der beiden Attentäter wurde vom Dschihad als Suliman Tahineh aus einem Dorf bei der Autonomiestadt Dschenin identifiziert: Der Aktivist habe vor sieben Jahren während der "Intifada" durch ein israelisches Geschoss ein Bein verloren und drei Jahre in israelischer Haft verbracht. Bei dem anderen Täter handelte es sich um Jussuf Zuhajir aus Ost-Jerusalem. Beide Männer sollen sich in israelischer Haft kennen gelernt haben. Andere Quellen berichten, dass beide verschwägert seien. Bekenneranrufe gingen allerdings auch vom Izzadin el-Kassam ein, dem bewaffneten Arm der Hamas.

Als Sanitäter verhält man sich in einem solchen Fall genau wie in der Armee: Die Schemata sind die gleichen wie im Krieg, denn schnell ist man für 15 Verletzte oder mehr zuständig: Zunächst gehe ich zu dem, der bewusstlos ist, kontrolliere die Atmung, lege ihn in eine stabile Seitenlage und gehe erst dann zu denen, die bei Bewusstsein sind. Wenn ich mehrere Verletzte habe, muss ich diese Entscheidung treffen: Denn ein Bewusstloser ist scheinbar so schwer verletzt, das er eben das Bewusstsein schon verloren hat. Oder er ist tot, aber den Tod kann und darf ich nicht feststellen. Ich komme natürlich immer wieder zu den Bewusstlosen zurück, muss aber gleichzeitig dafür sorgen, dass andere nicht in die Bewusstlosigkeit fallen.

Ein Anschlag hat seine eigene Choreographie. Anders etwa als bei einem Verkehrsunfall kommen hier wenige Helfer auf viele Verletzte. Es muss alles sehr schnell gehen. In Israel wird nach amerikanischen Versorgungsgrundsätzen vorgegangen. "Scoop and run" heißt das, wenn Verletzte vor Ort nur stabilisiert und dann möglichst rasch in die Krankenhäuser eingeliefert werden. Das funktioniert vor allem dann, wenn die Hospitäler nicht weit vom Unglücksort entfernt sind. Ansonsten gilt: "Stay and play": der Verletzte wird bereits vor Ort intensivmedizinisch betreut.

Was immer auffällt: Die Leute sind nackt. Die Explosionen sprengen und brennen die Kleidung weg. Und der Boden ist übersät mit unsagbaren Dingen, Kleidungsstücke, Körperteile, Blut, Melonen, Tomaten — ein riesiges Durcheinander. Wenn jemand ein Körperteil verloren hat, ist alles sehr schwierig, man kann nicht erkennen, zu wem was gehört, und alles ist unglaublich schmutzig. Es hat Selbstmordattentäter gegeben, die hatten Hepatitis B, Gelbsucht, und die wurden extra dafür ausgewählt. Deren Blut verteilt sich dann überall. Oder es hat Autobomben gegeben, die zusätzlich mit Pflanzenschutzmitteln verseucht wurden.

Täter sind keineswegs nur diejenigen, die nichts mehr zu verlieren haben, die schlecht gebildet oder arm sind. Vielmehr legt eine US-tschechische Studie aus dem Jahr 2002 nahe, dass sie eher aus wohlhabenderen Familien kommen. Die These, das Terror letzlich wirtschaftliche Ursachen hat — Besitz ihn also beseitigen könnte — scheint somit kaum haltbar zu sein. Die Bereitschaft zum Terror habe hingegen mehr mit Erziehung zu tun, sagt die Studie. Im übrigen sind Selbstmordattentate kein typisch israelisches Problem: In den letzten Jahren gab es sie in zahlreichen Ländern — nur nicht so häufig.

Die Helfer sind eingespielt. Die Leitung vor Ort arrangiert die Ambulanzen so, dass fast wie am Taxistand jede Ambulanz belegt werden kann. Nachrücken, füllen, fahren. Und organisieren, wer in welches Hospital kommt. Am Ort des Geschehens treffen weitere Helfer ein. Viele orthodoxe Juden etwa haben eine Sanitäterweste im Wagen. Sie erfahren über Funksignal von den größeren Ereignissen und beteiligen sich ebenfalls an den Arbeiten. Sie sind es, die nach solchen Anschlägen umherliegende Körperteile und mit Sägespänen auch das Blut einsammeln, überall, selbst auf den Bäumen und Dächern. Nach jüdischem Glauben ist das Leben heilig, darum werden auch alle menschlichen Überreste begraben. Später kommen Arbeiter der Stadtverwaltung, es wird sauber gemacht: So schnell wie möglich soll wieder normales Leben ablaufen.

Ist der letzte Verletzte im Krankenhaus, ist der Einsatz für die Sanitäter noch nicht abgeschlossen. Zurück auf der Station gibt es ein Debriefing, eine Nachbesprechung für alle Beteiligten. Da kommen dann selbst die Telefonistinnen hinzu, und die Freiwilligen, die über Beeper von dem Ereignis erfahren haben. Dann wird analysiert: Wann kam die erste Meldung, wann trafen die Hilfskräfte ein, woran lag es, dass die einen ihren Beeper später als die anderen bekamen? Wer war als erster da, was hat er gemacht? Was hat die Polizei gemacht, hatten die Helfer sofort Kontakt mit dem Verantwortlichen?

Hass habe ich nicht verspürt, Hass bringt auch nichts. Unverständnis aber schon, und Wut. Auch Wut über Europa, nicht zuletzt über das Aufrechnen: 2700 Opfer in den letzten zwei Jahren, nur 700 davon Israelis und 2000 Palästinenser. Mir steht dann vor Augen, dass diese 700 so gestorben sind wie ich es gesehen habe, sie zerfetzt wurden, weil sie zum Markt gingen, verbrannt, weil sie im Bus saßen. Wut gegen Menschenverachtung. Das heißt aber nicht, dass ich nicht sehen könnte, dass auch das palästinensische Volk Opfer ist: ihrer arabischen Brüder, Opfer von uns und ihrer eigenen Führung. Klar, in dem Moment, wo Du hinterher noch mit den Leuten zusammensitzt, besudelt mit Dreck, mit Blut, mit stinkendem Hirn — du kriegst lange das Rot nicht mehr aus den Fingern raus oder findest nach Tagen unter dem Uhrarmband verkrustetes Blut — klar, dass man dann nicht so cool ist. Dann flucht und schimpft man auf diese Schweine und die Gesellschaft, die es zulässt, ohne es zu sanktionieren. Was aber nicht bedeutet, das Frieden nicht gewollt wird.

Mehr als die Hälfte der palästinensischen Bevölkerung — 53 Prozent — steht Terroraktionen gegen israelische Zivilisten innerhalb Israels positiv gegenüber, 90 Prozent befürworten Gewalt gegen Soldaten und Siedler in der West Bank und Gaza. So besagt es eine Umfrage des Palestinian Center for Policy and Survey Research (PSR), die gemeinsam mit dem Harry S. Truman Research Institute for the Advancement of Peace der Hebräischen Universität Jerusalem im November 2002 präsentiert wurde.

Zwei Drittel aller Palästinenser glauben, dass bewaffnete Aktionen bislang mehr Erfolg gebracht haben als politische Gespräche es hätten haben können — sie also ein besonders effektives Instrument sind. 79 Prozent der Israelis denken, dass sich die Intifada für die Palästinenser nicht ausgezahlt hat.

Der Gewalt scheinen indes beide Seiten müde: Mehr als drei Viertel der Palästinenser wünschen sich eine Feuerpause — sofern beide Seiten mitmachen würden. Dies ist ein signifikant höherer Wert als bei einer früheren Umfrage im August. Seinerzeit traten gerade 48 Prozent für eine Beendigung von Gewaltaktionen auf Gegenseitigkeit ein, in Israel sind es 96 Prozent.

Nahezu gleichverteilt ist der Wunsch nach Versöhnung nach einer Phase des Friedens und Schaffung eines palästinensischen Staates: Dies wünschen sich 73 Prozent der Palästinenser und 75 Prozent der Israelis.

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