Übergriffe in Köln:Viele Fragen an die Landesmutter

Untersuchungsausschuss zur Silvesternacht - Hannelore Kraft

"Ich habe ja gesagt, ich habe auch Fehler gemacht": Ministerpräsidentin Hannelore Kraft im Untersuchungsausschuss zur Kölner Silvesternacht

(Foto: dpa)

Im Untersuchungsausschuss zu den Übergriffen in Köln kämpfen die Verantwortlichen um ihren Ruf - vor allem Ministerpräsidentin Kraft. Den Opfern nützt das wenig.

Von Bernd Dörries

"Ich schätze, dass ich so knapp 100 Meter durch diese Menschenmasse laufen musste. In dieser Zeit wurde ich ständig von den dort stehenden Männern unsittlich angefasst. Sie fassten mir unter mein Kleid, von hinten zwischen die Beine und von hinten an die Brust. Das passierte auf diesen 100 Metern bestimmt fünf oder sechs Mal. Ich wollte nur noch weg." So steht es in einer von 1192 Anzeigen, die nach der Kölner Silvesternacht bei der Polizei eingegangen sind, knapp die Hälfte davon wegen sexueller Delikte.

Für die Betroffenen war es eine furchtbare Nacht. Für das Land war es ein Wendepunkt. Davor waren Flüchtlinge in erster Linie Opfer, denen geholfen werden muss. Danach galten sie vielen Menschen auch als Täter, aus der Willkommenskultur wurde eher eine des Misstrauens. Es war nur eine einzige Nacht, aber sie hat vieles verändert. Manches kann man nicht mehr zurückdrehen, das Klima in der Gesellschaft, die Grenzen, die sich schließen. Die Tat ist geschehen.

Politik und Polizei versprachen aber zumindest, alles dafür zu tun, dass die Täter gefasst werden. Ein halbes Jahr später gibt es nach Angaben der Kölner Staatsanwaltschaft 225 Beschuldigte aus der Silvesternacht: Fast die Hälfte von ihnen kommt aus Marokko und Algerien, nur ein Dutzend aus Syrien, weniger als die Hälfte sind als Asylsuchende gemeldet, etwa 40 hielten sich zur Tatzeit illegal in Deutschland auf. In 17 Verfahren wurde ein Urteil gesprochen, kein einziges jedoch bezieht sich auf den Vorwurf sexueller Gewalt, sondern lediglich Diebstähle. Die Justiz tut sich schwer damit, den kollektiven Wahnsinn der Nacht auch einzelnen Tätern zuzuschreiben.

"Dann grapschten diese Männer uns auch an, an den Busen und auch in die Hose, an den Po. Die Polizisten, die wir angesprochen hatten, haben uns nicht geholfen." So erzählt es eine junge Frau nach der Silvesternacht. Eine von vielen, die von Polizisten berichtet, die überfordert waren. Oder gleichgültig. Es sind Erzählungen von einem Staat, der seine Bürger nicht mehr schützen kann. Zumindest in dieser einen Nacht.

Zehn Tage brauchte Kraft, um sich ausführlich zu den Vorfällen zu äußern

In den Wochen danach redete die Politik über Flüchtlinge, die Balkanroute, es wurde mehr über die mazedonische Grenze diskutiert als darüber, wie es den Opfern wohl geht. Zehn Tage brauchte Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidentin Hannelore Kraft, um sich zumindest in einer Talkshow zum ersten Mal ausführlich zu den Vorfällen zu äußern.

Zu spät habe sie reagiert, sagte Kraft am vergangenen Freitag im Untersuchungsausschuss des nordrhein-westfälischen Landtages. Nächsten Mai sind Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen, weshalb die Opposition auch gerne klären möchte, warum die Landesmutter so lange brauchte, das zu tun, was doch eine ihrer Kernkompetenzen ist, das Kümmern.

Die Ministerpräsidentin gibt zu, dass es zu spät kam. Es habe Fehler gegeben in der Kommunikation. Seit Wochen arbeitet sich der Ausschuss an der Frage ab, wer in der Landesregierung wann wirklich wusste, wie groß die Dimension dessen war, was in der Nacht passierte. Letztlich war es wohl so: Das Land wachte erst am 4. Januar wieder richtig aus den Ferien auf. Und Hannelore Kraft brauchte noch mal eine Woche länger.

Jetzt sitzt sie im Untersuchungsausschuss des Landtags und stellt sich selbst ein Arbeitszeugnis für die Zeit danach aus: "Ich bin gut vernetzt, ich habe viel telefoniert, ich habe hart gearbeitet." Zwischen den Jahren habe sie sich eine Auszeit gegönnt und auch keinen Kontakt mit ihren Mitarbeitern gehabt, keine Neujahrsgrüße abgeschickt, was aber nicht als schlechtes Betriebsklima misszudeuten sei. Zu Weihnachten habe sie nämlich einen handschriftlichen Brief an die Mitarbeiter verschickt, "sehr wertschätzend, der das alles abdeckt". Ob das aber die Opfer interessiert?

Angst vor einer Massenpanik

Es läuft alles etwas aus dem Ruder im Untersuchungsausschuss. Opposition und Regierung, jeder spielt seine Rolle. Jeder behauptet, vor allem nur an die Opfer zu denken. Jeder denkt vor allem an sich.

Welche Fehler vor Silvester passierten und im Laufe des Abends, das spielt schon länger keine Rolle mehr. Zu kleinteilig, zu wenig wahlkampftauglich.

Günter R., der Einsatzleiter der Landespolizei, berichtete dem Gremium von zwei völlig verschiedenen Welten, die an diesem Abend existiert hätten. Die Welt der Opfer und die Lage aus Sicht der Polizei. Dunkel sei es gewesen, sagte der Einsatzleiter, seine größte Sorge sei eine Massenpanik auf der Domtreppe gewesen, die dann geräumt wurde. "All die schlimmen Dinge, die jetzt in Rede stehen, wurden uns nicht gesagt. Wenn doch nur zehn Prozent 110 gewählt hätten, dann hätten wir eine andere Lage gehabt", sagte R.

Und die Schlangen vor den Polizeiwachen, die vielen Frauen, die schon in der Nacht eine Anzeige aufgeben wollten?

Die Meldekette war ein Fetzen voller Löcher

Das komme schon mal vor, sagte der Einsatzleiter. Andere Polizisten berichteten, sie hätten schon früh das Gefühl gehabt, dass die Lage vor dem Bahnhof außer Kontrolle gerate. Der Einsatzleiter der Bundespolizei sah die Nacht weitaus dramatischer als sein Kölner Kollege. Nur sprach einer offenbar nicht mit dem anderen.

Bundespolizei, die Bereitschaftspolizei, die Kölner Kräfte und die des Ordnungsamtes funkten auf verschiedenen Frequenzen. Die Meldekette war ein Fetzen voller Löcher. Verstärkung stand bereit, wurde aber nicht angefordert, die Brücke über den Rhein geschlossen, was dazu führte, dass keine Züge mehr den Bahnhof Richtung der rechtsrheinischen Gebiete verlassen konnten, was zu einem gefährlichen Rückstau im Bahnhof führte. Die Verantwortlichen schafften so das Gedränge, in dem sich die Täter dann bewegen konnten.

Die Täter, sie stehen bisher kaum vor Gericht. Vor den Ausschuss im Landtag kommen sie schon gar nicht. Manche sind wohl schon längst weitergezogen, in andere Städte. In andere Länder. Der Schaden, den sie hinterlassen haben, ist schwer zu ermessen. Sie haben Taten begangen, nach denen auch in Deutschland damit begonnen wurde, die Grenzen zu schließen. Sie waren der Beweis für alle jene, die es immer schon geahnt haben.

Sie waren der Auslöser dafür, dass die schwarz-rote Bundesregierung versuchte, Marokko und Algerien zu sicheren Herkunftsstaaten zu erklären. Die Nacht beschleunigte die Verschärfung des Sexualstrafrechtes. Das Land ist seit der Silvesternacht ein anderes geworden.

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