Wahl in Russland:Auf beiden Augen blind

Die russische Führungselite im Kreml weiß nicht mehr, was im Land vor sich geht. Die Partei von Premier Putin und Präsident Medwedjew hat bei den Wahlen den Preis für diesen Realitätsverlust gezahlt. Die "gelenkte Demokratie" in Russland ist am Ende.

Cathrin Kahlweit

Als Wladimir Putin im Jahr 2000 das erste Mal eine Präsidentschaftswahl gewann, übernahm er ein Land, das der alkoholkranke Boris Jelzin mit seinem erratischen Führungsstil an den Rand des Abgrunds gewirtschaftet hatte. Jelzin, klagten die Russen damals, habe einer "defekten Demokratie" als Staatschef vorgestanden. Als der Machtmensch Putin kam, versprachen seine Parteigänger den Russen fortan eine "gelenkte Demokratie" - und sie meinten das positiv. Ein autoritärer Führungsstil galt weiten Teilen der Bevölkerung lange als Garant für Stabilität und bescheidenen Wohlstand.

Im Westen war die "gelenkte" Variante der Volksherrschaft immer schon negativ konnotiert. Der Begriff stammt ursprünglich aus dem Werk des amerikanischen Propaganda-Spezialisten und Freud-Neffen Edward Bernays, das sich die Nazis zu eigen machten. Er entwickelte einst das Konzept des politischen Spin-Doctoring, mit dem eine politische Elite dem Volk per Manipulation und Suggestion ihre Ziele und Entscheidungen vorgibt. "Die bewusste und intelligente Manipulation der Massen ist ein wichtiges Element in der demokratischen Gesellschaft", schrieb Bernays.

In Russland unter Putin hat dieses Prinzip lange Zeit - im Sinne der Regierung - so erfolgreich funktioniert, weil Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit nur in engen Grenzen gewährt wurden. Aber die Westöffnung und die Globalisierung haben die Gesellschaft sukzessive verändert, das ist mittlerweile nicht nur in den Großstädten, sondern auch in der Peripherie spürbar.

Der berühmteste politische Häftling Russlands, Michail Chodorkowskij, analysiert die Lage aus dem Gefängnis heraus so: Das Regime habe sich eine künstliche Welt via Massenmedien und Eigen-PR geschaffen, damit wollte es die politische Stimmung kontrollieren. Das Resultat, so Chodorkowskij, sei aber, dass man im Kreml vor lauter Selbstbeweihräucherung zuletzt nicht mehr in der Lage gewesen sei, sich ein adäquates Bild von der Wirklichkeit zu verschaffen.

Das Ergebnis der Parlamentswahl beweist, dass Putin, sein Majordomus Medwedjew und deren Helfershelfer mit der gelenkten Demokratie am Ende sind. Die harte Hand, mit der regiert wird, hat Ordnung und Stabilität nicht gewährleisten können. Im Kreml weiß man nicht mehr, was im Land vor sich geht. Einiges Russland, die De-Fakto-Staatspartei, hat den Preis für diesen Realitätsverlust gezahlt.

Tatsächlich muss dem Duo Wladimir Putin und Dmitrij Medwedjew aber zuletzt geschwant haben, dass auch die massivste Regierungspropaganda nicht ausreichen könnte, der Unzufriedenheit in der Bevölkerung entgegenzuwirken. Auch Russlands Bürger wollen sich mit Korruption, einer unfähigen Justiz, einer maroden sozialen Infrastruktur und einer schamlosen Bereicherung der neuen Reichen nicht mehr abfinden.

Wo ist die Opposition?

Der Kreml schwadroniert von einem starken Russland im Konzert der internationalen Mächte und von einem inneren Modernisierungsschub; in Wahrheit produziert die staatlich kontrollierte Großindustrie teilweise noch auf dem Stand der siebziger Jahre. Russland verfällt. Die Millionen Russen, die reisen, die im Netz surfen, die die Welt wahrnehmen, wie sie ist, wissen das. Im Kreml wollte man das bis zuletzt nicht sehen.

Das war schon deutlich geworden, als Präsident und Premier ihren geplanten Ämtertausch verkündeten und behaupteten, dies entspreche dem Volkswillen - damals brach ein Sturm der Entrüstung los. Die Mittelklasse, die seit dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes entstanden ist, die akademische, westwärts orientierte Elite, aber auch die junge Internet-Generation, die in der weiten Welt des World Wide Web neue Freiheiten kennenlernt, will sich nicht mehr bevormunden lassen.

Dass Medwedjew die Wahl und ihren Ausgang gleichwohl als "würdig" bezeichnet, mag als Versuch gelten, schönzureden, was eine beispiellose Niederlage ist: Das russische Regime hat sein Volk nicht mehr unter Kontrolle. Hätte es die Wahlfälschung nicht gegeben, mit der das erwartet schlechte Ergebnis noch nach oben korrigiert wurde, dann hätte Einiges Russland, wie russische Journalisten hochrechnen, gerade mal um die 25 Prozent der Stimmen eingefahren.

Nichts konnte den Machterhalt mehr gewährleisten als nackte Gewaltanwendung: die Abschaltung kritischer Internetseiten und die Inhaftierung kritischer Köpfe. Ein ehemaliger Fahrensmann Putins, der frühere Ministerpräsident Michail Kasjanow, hat das auf den Punkt gebracht: "Die Behörden haben ein Imitat von Wahlen geschaffen. Das ist keine Wahl, und sie ist nicht frei."

Im Westen wundert man sich, dass angesichts des Debakels für Russlands starke Männer die liberale Opposition so wenig Zulauf hatte, im Gegensatz zu radikaleren Parteien. Das ist nicht wirklich verwunderlich: Auch anderswo bringt die Enttäuschung über ein erstarrtes System in erster Linie Protestwähler und Wahlenthaltung hervor. Die kleinen liberalen Gruppierungen mit ihren wenigen Protagonisten, die in der Öffentlichkeit bisher kaum Gehör fanden, stellen für die Russen vorerst keine echte Alternative dar. Aber der Leidensdruck wird wachsen, und damit auch die Opposition.

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