Warnung:Die Goldwater-Regel

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Ferndiagnose Paranoia: der Republikaner Barry Goldwater. (Foto: Popperfoto/Getty Images)

Psychiatrische Ferndiagnosen bringen nichts und haben immer wieder zu grotesken Fehleinschätzungen geführt. Seit Jahrzehnten sollten sie tabu sein - eigentlich.

Von Christian Weber

Vielleicht hätte der republikanische Präsidentschaftskandidat Barry Goldwater nicht darüber sinnieren sollen, dass man mit der Atombombe "prima den vietnamesischen Dschungel entlauben" könne. Jedenfalls führten seine Äußerungen wohl mit dazu, dass kurz vor den Wahlen am 3. November 1964 eine wenig schmeichelhafte Zeile auf dem Cover des Fact Magazine stand: "1189 Psychiater sagen, dass Goldwater psychologisch ungeeignet ist, Präsident zu sein." Eine Umfrage unter Ärzten habe ergeben, dass der Kandidat unter Paranoia, Narzissmus und einer schweren Persönlichkeitsstörung leide. Vermutlich hat die Veröffentlichung dazu beigetragen, dass Goldwater die Wahl verlor.

Es war dieser Vorfall, der die American Psychiatric Association (APA) dazu brachte, in Abschnitt 7 ihres medizinethischen Handbuchs die sogenannte Goldwater-Regel zu formulieren: Es sei unethisch, wenn Psychiater ohne Untersuchung Diagnosen über Personen des öffentlichen Lebens stellten. Der Verleger des Fact Magazine wurde zu 75 000 Dollar Geldstrafe verurteilt. "Wir lehnen Ferndiagnosen zur Bewertung des Gesundheitszustandes beziehungsweise der Persönlichkeitsstruktur eines Menschen grundsätzlich ab", erklärt Arno Deister, Präsident der deutschen Fachgesellschaft DGPPN.

Seitdem Goldwater-Skandal hielten sich die meisten Psychiater in den USA und in Deutschland an diese Regel, mal abgesehen von dem etwas voyeuristischen Gesellschaftsspiel, verstorbenen Künstlern oder Rockstars diverse Störungen zuzuschreiben: Robert Schumann? Bipolare Störung. Kurt Cobain? Klarer Fall von Borderline.

Das mag noch nicht mal immer falsch sein, ganz seriös ist es nicht. Meist reicht nicht die Beobachtung eines Menschen von außen, um zu einer Diagnose zu kommen. Der Betroffene muss vielmehr freimütig Auskunft geben über seine Emotionen und Gedanken, seine Erfahrungen in privaten Situationen. Üblicherweise führen die Ärzte deshalb lange Gespräche und lassen ausführliche, standardisierte Fragebögen ausfüllen, bevor sie eine Diagnose stellen. Und überhaupt - was geht das die Öffentlichkeit an?

Viel, meinen einige Psychiater, zumindest seitdem ein Politiker mit noch schlimmeren Tiraden als Goldwater das US-Präsidentenamt tatsächlich erobert hat. Und der mit seinen Tweets und bizarren Auftritten im Übermaß Material liefert, das viele Experten auf eine narzisstische Persönlichkeitsstörung schließen lässt. "The dangerous case of Donald Trump" heißt ein Buch, das die Psychiaterin Bandy Lee von der Yale University vor Kurzem herausgab, 27 Fachärzte wirkten mit - und sahen keine ethischen Probleme, schließlich könne Trump einen Atomkrieg auslösen. Man müsse vor ihm warnen.

Die Frage bleibt, worin der Erkenntnisgewinn einer Ferndiagnose liegt? Dass Trump ein wirrer Lügner ist, sieht man auch ohne Hilfe der Psychiatrie. Ob Kim Jong-un zurechnungsfähig ist, lässt sich aus der Ferne vermutlich nicht herausfinden, dazu ist er zu abgeschirmt. Bedenklich ist der Gebrauch psychiatrischer Diagnosen bei prominenten, unsympathischen Menschen hingegen, weil sie auf alle Kranken abfärben können. Und nicht vergessen sollte man, dass auch psychisch gestörte Politiker erfolgreich sein können, so etwa der depressive und alkoholabhängige Winston Churchill oder der sexbesessene und narzisstische John F. Kennedy. Wenn denn die Ferndiagnose ihrer Beschwerden stimmt.

© SZ vom 14.05.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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