Wahlrechtsreform:Die beste Wahl

Der deutsche Bundestag braucht weder Überhang- noch Ausgleichsmandate. Die Grundzüge des neuen Wahlrechts berücksichtigen dies jedoch nicht, im Gegenteil: Weder negative Stimmgewichte, noch eine Aufblähung des Parlaments würden verhindert werden. Eine konsequente Reform müsste anders aussehen.

Frank Decker

Wahlrechtsreform

Es könnte bald eng werden im Bundestag: Durch die Reform könnte sich das Parlament auf über 650 Abgeordnete aufblähen.

(Foto: dapd)

Union und FDP haben sich mit der rot-grünen Opposition auf die Grundzüge eines neuen Wahlrechts verständigt. Nachdem die Regierungsparteien mit ihrem Versuch, das Wahlgesetz im Alleingang zu verändern, im Juli vor dem Verfassungsgericht gescheitert waren, mussten sie sich nun auf einen Kompromiss einlassen.

Bewegt hat sich vor allem die Union. Sie hätte den Vorteil, der ihr im heutigen Parteiensystem durch die Überhangmandate entsteht, am liebsten behalten. Das Karlsruher Urteil, das bis zu 15 Überhangmandate für zulässig erklärt, würde dies auch ermöglichen.

Die von den Verfassungsrichtern gesetzte Grenze ist jedoch ebenso willkürlich wie unstimmig. Denn 30 Überhangmandate, die sich gleichmäßig auf die beiden großen Parteien verteilen, verletzen den Gleichheitsgrundsatz weniger als zehn Mandate, die nur einer Partei zugutekommen. Die Union war insofern gut beraten, von der Idee einer nur partiellen Neutralisierung der Überhangmandate Abstand zu nehmen.

Die jetzt gefundene Lösung trägt in erster Linie die Handschrift der SPD. Die Überhangmandate sollen danach durch zusätzliche Mandate für die anderen Parteien ausgeglichen werden. Es hätte auch die Möglichkeit bestanden, sie mit Listenmandaten derselben Partei in anderen Bundesländern zu verrechnen - dies aber wurde fallengelassen, weil sie innerparteilich zu Konflikten geführt hätte.

Nachteile der Wahlrechtsreform

Warum sollte der Landesverband im einen Bundesland dafür büßen, dass im anderen Bundesland Überhangmandate anfallen? Die Lösung mit Ausgleichsmandaten ist insofern für alle Seiten am bequemsten. Sie weist freilich eine Reihe von nicht minder gravierenden Nachteilen auf, die an ihrer Tragfähigkeit zweifeln lassen.

Erstens stellen Ausgleichsmandate nur den parteipolitischen, nicht aber den föderalen Proporz wieder her. Letzteres würde ein Vielfaches an zusätzlichen Mandaten erfordern.

Zweitens kommt es auch bei einer Beschränkung auf den parteipolitischen Ausgleich zu einer Aufblähung des Parlaments, die schwer zu rechtfertigen ist. Warum sollte der Bundestag, dessen gesetzliche Mitgliederzahl bei 598 liegt, auf einmal aus 650 oder 670 Abgeordneten bestehen?

Drittens verhindern Ausgleichsmandate nicht das Auftreten negativer Stimmgewichte. Diese hatte das Bundesverfassungsgericht 2008 bekanntlich zum Anlass genommen, das Bundestagswahlrecht für ungültig zu erklären.

Und viertens geht von der Aufblähung der Parlamente eine merkwürdige Signalwirkung aus. In Nordrhein-Westfalen stellt die CDU heute zum Beispiel dank der großzügigen Ausgleichsregelung des Landeswahlgesetzes genauso viele Abgeordnete wie in der letzten Legislaturperiode, obwohl sie bei der Wahl im Mai 8,3 Prozentpunkte verlor.

Überhangmandate sollten gar nicht entstehen

Eine konsequente Wahlrechtsreform müsste das Übel an der Wurzel packen und dafür sorgen, dass Überhangmandate gar nicht erst entstehen. Dann wären auch keine Ausgleichsmandate erforderlich. Die sicherste Methode läge in einer Absenkung des Anteils der Direktmandate. Besteht der Bundestag gegenwärtig zur Hälfte aus Wahlkreis- und Listenabgeordneten, könnte das Verhältnis in Zukunft zum Beispiel 40 zu 60 betragen.

Der Nachteil dieser Lösung besteht zum einen darin, dass die Wahlkreise größer würden, zum anderen wäre ein kompletter Neuzuschnitt aller Wahlkreise nötig. Da dies bis zum kommenden Jahr unmöglich zu schaffen ist, könnte man sich bei der Bundestagswahl 2013 zunächst mit einer Zwischenlösung mittels Ausgleichsmandaten behelfen.

Eine konsequente Reform müsste allerdings noch einen Schritt weiter gehen und eine andere Ursache für das Anwachsen der Überhangmandate gleich mitbeseitigen: das Stimmensplitting. Das im Bund 1953 eingeführte Zwei-Stimmen-System, das auch in der Mehrzahl der Bundesländer besteht, wird von Politikern gerne mit dem lobenden Hinweis versehen, dass es die Wahlmöglichkeiten des Wählers erhöhe.

Ärgernis Stimmensplitting

In Wahrheit stellt es ein demokratisches Ärgernis dar. Umfragen zeigen, dass bis heute ein erheblicher Teil der Bürger unter der falschen Annahme wählt, die Erststimme sei wichtiger oder genauso wichtig wie die Zweitstimme.

Streit ums Wahlrecht

Was ist wichtiger? Erst- oder Zweitstimme?

(Foto: dpa)

Das Zwei-Stimmen-System führt auch nicht automatisch zu einer Stärkung der personalen Komponente, wie die Befürworter immer glauben machen wollen. Würde mit der Person zugleich die Partei gewählt, wie es bei der ersten Bundestagswahl 1949 der Fall war, wäre der Anreiz der Parteien eher größer als unter den heutigen Bedingungen, zugkräftige Bewerber in den Wahlkreisen aufzustellen. Der Chemnitzer Politikwissenschaftler Eckhard Jesse hat deshalb schon in den Achtzigerjahren die Rückkehr zum Ein-Stimmen-System gefordert.

Eine solche Reform würde natürlich den Widerstand der kleinen Parteien hervorrufen - sie profitieren am meisten von der Möglichkeit des Splittings. Allein aus diesem Grund erscheint sie kaum realistisch. Allerdings werden die kleinen Parteien durch eine andere Regelung im bestehenden Wahlrecht noch viel gravierender benachteiligt - von der Fünf-Prozent-Hürde.

Fünf-Prozent-Hürde unter Druck

Diese steht heute gleich doppelt unter Druck: Einerseits erfüllt sie immer weniger ihren eigentlichen Zweck, eine Zersplitterung der Parteienlandschaft zu verhindern und damit die Bildung stabiler Regierungsmehrheiten zu erleichtern. Andererseits nehmen aber auch ihre unerwünschten Nebenwirkungen zu, wenn infolge der Zersplitterung ein wachsender Anteil von Stimmen dieser Klausel zum Opfer fällt.

Um dem Problem zu begegnen, könnte man eine andere Anregung Jesses aufgreifen: die Einführung einer zusätzlichen Neben- oder Ersatzstimme. Diese käme zum Zuge, wenn die Partei, für die man mit der Hauptstimme votiert, die Fünf-Prozent-Hürde verfehlt. Auch bei einer Zusammenlegung von Personen- und Parteistimme gäbe es damit weiterhin genügend Anreize, kleinere Parteien zu unterstützen; kein Wähler müsste fürchten, seine Stimme zu verschenken.

Darüber hinaus gehende Elemente der Personenwahl ("Kumulieren und Panaschieren"), die auf der kommunalen Ebene ihre Berechtigung haben mögen, sind im Bundestagswahlrecht jedoch fehl am Platze.

Hält man an den Vorzügen eines einfachen Wahlsystems fest, wäre es besser, die Demokratisierung vorzuverlegen, indem man die Wähler bereits an der Aufstellung der Wahlkreis- und Listenkandidaten in den Parteien beteiligt. Dazu müssten sich deren Funktionäre und Mitglieder freilich durchringen, ihre "Closed Shop"-Mentalität abzulegen. Dies allerdings ist ihnen bisher - siehe SPD - erst ansatzweise gelungen.

Frank Decker, 48, ist Professor am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn. Sein Forschungsschwerpunkt sind westliche Regierungssysteme, Föderalismus und Demokratiereform.

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