Wahlmüdigkeit:Wenn sich der Bürger verweigert

Frust, Desinteresse, Überforderung, Protest - Nichtwähler haben die unterschiedlichsten Gründe.

Von Jonas Viering

Heutzutage sind auch die Sieger meistens Verlierer. Bei der Kommunalwahl in Brandenburg am vergangenen Wochenende überholte zwar die Union die SPD, sie büßte gegenüber der vorangegangenen Wahl aber mehrere Tausend Stimmen ein.

In Bayern erreichte die CSU vor einem Monat zwei Drittel der Landtagssitze, doch auch sie wurde von weniger Menschen gewählt als zuvor. Größte Partei im Freistaat wurden die Nichtwähler. In Brandenburg gab sogar mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten keine Stimme ab. Der Bürger, dieses rätselhafte Wesen, verweigert sich.

Und das ist ein Trend. Die Negativ-Rekorde häufen sich in den vergangenen Jahren. Die bislang schlechteste Wahlbeteiligung bei einer Landtagswahl wurde mit 54 Prozent 1999 in Brandenburg verzeichnet; im Westen sieht es mit dem Tiefstand von 57 Prozent im Jahr 2000 in Nordrhein-Westfalen nicht viel anders aus.

Auch wenn es immer wieder einmal Ausreißer nach oben gibt: Die Wahlbeteiligung in Deutschland sinkt. Seit der Wiedervereinigung liegt sie bei durchschnittlich 67 Prozent, in den neunziger Jahren betrug sie knapp 70 Prozent, in den Achtzigern wählten noch 77 Prozent, in den Siebzigern sogar etwas mehr als 80 Prozent.

Warnung vor falschen Schlüssen

Doch was bedeutet das eigentlich? Verliert die Demokratie in Deutschland an Rückhalt? "Eine unglaubliche Krise, wie wir sie seit fünfzig Jahren nicht hatten", diagnostizierte gleich nach der Brandenburger Kommunalwahl der Göttinger Parteienforscher Franz Walter: Die Volksparteien verlören das Vertrauen der Bürger.

Matthias Jung von der renommierten Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen jedoch warnt vor allzu schnellen Schlussfolgerungen. "Niedrige Wahlbeteiligung wird gern mit Politikverdrossenheit gleichgesetzt, aber das ist falsch."

Protest drücke sich in der Wahl von Protestparteien aus. Sein Beispiel: Bei den Europawahlen 1994 lag die Wahlbeteiligung bei 60 Prozent, zugleich bekamen die rechtsextremen Parteien viele Stimmen.

Fünf Jahre später sank die Wahlbeteiligung deutlich, genauso die Stimmenzahl für die Rechten.

Nichtwähler haben ganz unterschiedliche Beweggründe. "Die SPD-Wähler sind einfach zuhause geblieben", erklärt der Berliner Parteienforscher Richard Stöss.

Bewusst oder zu wenig interessiert

Das war in Brandenburg und Bayern so, aber auch bei den anderen Landtagswahlen in diesem Jahr, in Hessen und Niedersachsen.

Dahinter stand weniger der Protest gegen das System als Frust über den Regierungskurs in Berlin. Sozialdemokratisch mochten sie nicht mehr wählen, aber die Bösewichte von der Union eben auch nicht.

Grundsätzlich gibt es diese bewussten Nichtwähler und solche, die Politik einfach zu wenig interessiert, als dass sie sich zur Wahlurne bemühten.

Jung schätzt, dass beide Gruppen gleich stark sind. "Zu sagen, ist doch egal, wer regiert - das muss nicht negativ sein", meint Jung. Diese Gleichgültigkeit bedeute nicht selten gerade Zufriedenheit mit dem System, zumal sich die Politik der großen Parteien einander annähere.

So kann die Wahlenthaltung ganz rational sein. Ältere Menschen beteiligen sich weit stärker an Wahlen als Jüngere, weil sie dies als Pflicht sehen - so wie gute Tischmanieren.

Logisches Kalkül

Auch wirkt nach, dass in den fünfziger Jahren nach dem Nationalsozialismus eine hohe Wahlbeteiligung mit demokratischer Läuterung gleich gesetzt wurde.

Gerade Jüngere - abgesehen von den Erstwählern, die ihr neues Recht gern nutzen -, gerade moderne, den Gewerkschaften oder der Kirche fern stehende Menschen wählen nicht mehr aus einem letztlich unpolitischen Pflichtgefühl heraus.

Ein Ausnahme war die Bayernwahl. Hier war der Wahlsieg der CSU von vornherein sicher, deshalb erschien es vielen sinnlos, daran teilzunehmen: Auch dies ein logisches Kalkül.

Die Bindung an Ideologien wird schwächer - bei den Parteien und bei den Wählern. Früher jedoch erleichterte diese Bindung dem Bürger die Wahl.

Heute müsste er sich mit den komplizierten Details von Bürgerversicherung und Kopfpauschale auseinander setzen, um fundiert entscheiden zu können. Das überfordert viele.

Demokratie-Problem

"Die Zahl derer wächst, die die Politik der Regierung und der Opposition als planlos und willkürlich empfinden", sagt Klaus-Peter Schöppner vom Meinungsforschungsinstitut Emnid.

Spätestens hier gibt es dann doch ein Demokratie-Problem. Das bietet auch Radikalen mit ihren schlichten Parolen eine Chance - hierin sind sich die meisten Politikwissenschaftler wieder einig. Menschen ohne traditionelle Parteibindung, besonders im Osten, wählen mal gar nicht, mal diese Partei, mal jene.

Heftige Ausschläge sind möglich - das macht es den Regierenden nicht leichter, Sacharbeit konsequent zu betreiben.

Problematisch kann auch sein, wenn die soziale Zusammensetzung der Wähler einseitig wird, wenn also etwa die Älteren die Wahlentscheidung dominieren.

Sehr umstritten ist unter Experten, ab welchem Grad an Wahlenthaltung die Legitimation der Gewählten zu gering ist. Immerhin sind 50 Prozent Nichtwähler nichts Ungewöhnliches in den USA - und die haben sich bislang durchaus als stabile Demokratie bewährt.

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