Wahlkampf:Wie sich der Frust im Osten festgesetzt hat

Lesezeit: 2 min

Ein Mann zeigt Merkel bei ihrem Besuch in Bitterfeld-Wolfen eine rote Karte. (Foto: REUTERS)

Der Bundestagswahlkampf verläuft bemerkenswert leise - aber nicht überall. Auf Marktplätzen in Ostdeutschland kann man die Wut beobachten. Besonders wenn die Kanzlerin dort auftritt.

Von Cornelius Pollmer

Es sagt sich so leicht dahin, dass der Wahlkampf vor dieser Bundestagswahl ermattend sei, aber es lassen sich auch leicht reale Belege dafür finden. Man kann an einem Montagabend im September mit Susanna Karawanskij, der Ostbeauftragten der Linken im Bundestag, in ihren Wahlkreis nach Eilenburg fahren, zu einer Diskussionsrunde der Direktkandidaten. Im Bürgerhaus der sächsischen Kleinstadt findet man dann auf einem Beistelltisch eine traurige Fläschchen-Armee mit Saft, Cola, Wasser - aber kaum mehr als 15 Zuhörer, die davon Gebrauch machen könnten.

Man kann an einem Freitag nach Eisleben in Sachsen-Anhalt fahren und einer Rede Alexander Gaulands zuhören, einem der beiden Spitzenkandidaten der AfD. Selbst bei den heftigeren Ausschlägen dieser Rede: eher höflicher Applaus von ein paar Dutzend Zuhörern, als befände man sich auf einem Nebenplatz in Wimbledon.

Der Wahlkampf behält also auch im Osten die meiste Zeit Zimmerlautstärke, aber eben nicht nur. Womit die neuen Bundesländer dieser Tage auffallen, das ist ein nicht zu überhörendes Geschrei. Am lautesten und hässlichsten erfährt dies die Bundeskanzlerin. Die Berichte von den Wahlkampfauftritten Angela Merkels im Osten gleichen sich zuweilen fast bis aufs Wort, nur die Ortsmarken und Bundesländer ändern sich: Pfiffe und Tomatenwürfe in Wolgast, Mecklenburg-Vorpommern. Pfiffe und Geschrei in Bitterfeld, Sachsen-Anhalt. Pfiffe und tätliche Übergriffe in Vacha, Thüringen. Pfiffe und Hitlergrüße in Finsterwalde, Brandenburg. Pfiffe und Hasstiraden in Torgau, Sachsen.

Was steht dahinter? In Teilen des Ostens hat sich eine blindwütige Enttäuschung festgesetzt, die zu erklären und nachzuvollziehen schon der qualifizierten Mehrheit der anderen Bürger in der ehemaligen DDR schwerfällt. Auf säuberlich sanierten Marktplätzen wird in diesem Wahlkampf getrillert und geschrien, was die Lunge hergibt. Man erlebt dort Menschen, die sich nicht mehr beherrschen wollen und die sich gedanklich in keiner Weise mehr verbinden lassen mit den großen öffentlichen Narrativen der jüngeren Zeit. Mit den Narrativen von Freiheit und friedlicher Revolution also, mit den Heldengeschichten vom Herbst '89 oder der noch immer herzschnürenden Erinnerung an Genscher, Prag, den Balkon.

Wie sich diese Frustrationen festgesetzt haben, kann man bei Susanna Karawanskij erfragen oder bei Jürgen Reiche. Reiche ist der Direktor des Zeitgeschichtlichen Forums in Leipzig, einem der wesentlichen Erinnerungsorte des Ostens. Dieser kommt in seiner Ausstellung bislang kaum über 1989/90 hinaus, Reiche arbeitet daran, das zu ändern.

Noch gegenwärtiger sind derzeit Rick Sprotte, 29, und Sahand Shahgholi, 25, unterwegs. Die beiden gehören der Initiative "Informiert wählen" an und ziehen vor der Wahl von Haustür zu Haustür in Leipzig und der Region, um überparteilich mit jenen ins Gespräch zu kommen, die eher nicht von selbst auf Wahlveranstaltungen gleich welcher Art gehen. Was Sprotte und Shahgholi an den Türen so erleben, ist alles andere als ermattend. Fast-Nackte, Schreiende, Duschende - mit all denen versuchen sie, ins Gespräch zu kommen und zu erläutern, dass am Ende auch eines vielleicht matten Wahlkampfs eine in jedem Fall wichtige Abstimmung steht.

© SZ.de - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusWahlkampf im Osten
:Der härteste Gegner

In Teilen Ostdeutschlands hat sich eine blinde Wut festgesetzt. Auf die Kanzlerin, den Kapitalismus, ja sogar die Kirche. Warum nur? Der Versuch eines Psychogramms.

Von Cornelius Pollmer

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: