Wahlkampf 2009:Ansichten einer Erstwählerin

Unsere 18-jährige Praktikantin hat keine Ahnung, wen sie wählen soll. Darum hat sie sich eine Woche den politischen Betrieb Berlins angeschaut - und Erkenntnisse gesammelt.

Anja Coralie Schneidereit

Na also, endlich, dieses Jahr darf ich erstmals auch auf dem Wahlzettel mitmischen. Mulmig ist mir dabei schon ein bisschen. Was, wenn ich ausgerechnet der Partei meine Stimme gebe, die Deutschland in eine noch schlimmere Krise führt?

Anja Coralie Schneidereit

Anja Coralie Schneidereit wird am 28. September 19 Jahre alt. Einen Tag vorher wird sie erstmals wählen gehen. Wen, das weiß sie noch nicht.

(Foto: Foto: privat)

Vier Jahre Schuldgefühle und "Tut mir leid, ich war's!", das wäre hart für mein junges Gemüt. Doch wie erkennt man die Guten in diesem schwarz-grau-bläulichen Anzugswald? Darf man Leuten überhaupt glauben, deren zweiter Vorname Rhetorik ist?

Nicht wählen ist keine Option für mich. Eine Freundin von mir geht nicht wählen, weil ihre Eltern das auch nie machen, Familientradition quasi. Bescheuerter geht es gar nicht. Manche wählen nach dem Prinzip "kleinstes Übel". Das Wahre ist das auch nicht. Mit voller Überzeugung das Kreuz auf den Zettel knallen, das wär's!

Eine Woche lang will ich die Parteienwelt nach versteckten Brandbomben und Messern abklopfen, um dann hoffentlich am Ende mit gutem Gewissen wählen gehen zu können.

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Montag, 10.08.09

Wahlkampf 2009: Reichtum für alle? Erstwählerin Anja Coralie Schneidereit mag es nicht glauben.

Reichtum für alle? Erstwählerin Anja Coralie Schneidereit mag es nicht glauben.

(Foto: Foto: dpa)

Erster Stop: Die Linke.

Die Wahlplakatpräsentation mit Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch steht an. Schlicht in rot-weiß mit schwarzem Text wollen sie punkten. Gut, dass ich bei der letzten Wahl vor vier Jahren ein bisschen aufgepasst habe, denn die Linke redet immer noch über die gleichen Dinge wie 2005. "Reichtum für alle!" fordern sie, ohne Hartz IV, aber mit Mindestlohn.

Klingt doch ganz nett. Aber als sie auf einem anderem Plakat "Reichtum besteuern!" wollen, da werde ich schon stutzig. Also wenn wir dann alle reich sind, wollen sie uns wieder mit hohen Steuern arm machen?

Später auf der Straße finde ich ein wenig verstört die Wahlplakate der CDU-Bundestagskandidatin für Friedrichshain-Kreuzberg, Vera Lengsfeld. Sie macht's wie Merkel in Oslo beim Opernbesuch und präsentiert sich und die Kanzlerin gleichermaßen offenherzig auf dem Plakat. Hat ganz schön für Aufsehen gesorgt. Aber große Brüste sind jetzt nicht unbedingt ein Synonym für pralle Argumente bei der CDU. Mich haben sie jedenfalls nicht überzeugt.

Hoffe auf baldige Erleuchtung.

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Wahlkampf 2009: Bei Münte in Köpenick hat sich Anja dabei erwischt, wie sie mitgeklatscht hat.

Bei Münte in Köpenick hat sich Anja dabei erwischt, wie sie mitgeklatscht hat.

(Foto: Foto: Team Wasserhövel)

Dienstag, 11.08.09

Alter Schwede, Müntefering aus nächster Nähe - inklusive Freibier. Der weiß wirklich, wie man die Massen hier auf dem Schloßplatz in Berlin-Köpenick fesselt und überzeugt. Vielleicht sollte Steinmeier sich mal ein paar Tipps holen, nachdem seine Rede vor der Bundespressekonferenz heute wohl eher ernüchternd ausgefallen sein soll, wie ich gelesen habe.

Von dem SPD-Mann, der hier eine Wahlveranstaltung macht, habe ich noch nichts gehört. Kajo Wasserhövel heißt er, Plakate und Flyer verraten es mir. Er ist Münteferings rechte Hand, Bundesgeschäftsführer, Wahlkampfleiter, und möchte jetzt in den Bundestag einziehen.

Als er zu mir an den Tisch kommt, frage ich, warum ich die SPD wählen soll. Gerechter Sozialstaat, sagt er, Arbeit für alle und erneuerbare Energien, dafür stehe die SPD.

Schön und gut, aber das kommt mir alles irgendwie bekannt vor. Die Linke will auch einen Sozialstaat, einen "neuen". Was man sich da aber unter "neu" vorstellen soll, habe ich nicht verstanden. Arbeit wollen doch alle Parteien schaffen, das will doch bestimmt selbst so ein Haufen wie die NPD. Und erneuerbare Energien, das klingt doch stark nach den Grünen. Im Moment drückt sich eben jeder gern das Bio-Siegel auf.

Die SPD als gemischte Platte, von der jeder sich sein Lieblingsstück herunternehmen kann. Wasserhövel hält das für ein Alleinstellungsmerkmal der SPD. Hat die CDU das nicht auch, frage ich ihn. Die SPD sei anders, sagt er. Besonders orginell finde ich das nicht.

Trotz alledem ertappe ich mich bei Münteferings Rede dabei, schüchtern zu klatschen, als es um Unigebühren geht. Die müssen weg beziehungsweise dürfen erst gar nicht kommen, sagt er. Das finde ich auch. Innerlich sehe ich mich schon mein Kreuzchen für Rot machen.

Ein bisschen weiter weg sitzen zwei Jungs in meinem Alter, beide in schwarz mit Junge-Union-Logo auf dem T-Shirt. Ich gehe rüber in der Hoffnung, etwas Inspirationen für meine Mission in eigener Sache zu bekommen.

Der eine ist auch Erstwähler, erzählt er mir, Angela Merkel wird er wählen. Es gebe ja eine lange Liste von Gründen, wieso die CDU so viel besser ist, sagt er. Ich gebe zu, dass ich von der Liste an Gründen noch nichts gehört habe und dass es um Frau Merkel ja auch ziemlich still geworden ist in letzter Zeit. Da lachen die zwei in ihren Latte Macchiato: "Naja, sie muss ja auch nichts machen, wenn die SPD sich die ganze Zeit selbst in die Scheiße reitet."

Wahrscheinlich sind diese beiden Jungs nicht die richtigen Ansprechpartner, etwas Vernünftiges zur CDU zu hören.

Notiz für mich: Fragen, ob man Müntefering dazu überreden kann, noch schnell anstatt Steinmeier zu kandidieren.

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Wahlkampf 2009: Online von omnipräsent bis schwer zu finden: Die Parteien im Internet.

Online von omnipräsent bis schwer zu finden: Die Parteien im Internet.

(Foto: Foto: dpa)

Mittwoch, 12.08.09

Halbzeit! Und damit Zeit, sich mal die Homepages der Parteien anzuschauen. Das ist anscheinend das neue Ding, Wahlkampf im Obama-Style. Aber wirklich die Coolness mit dem Löffel gegessen, wie Obama, haben sie deswegen noch lange nicht.

Steinmeier der eifrige Computer-Nerd versus Merkel, die lieber draußen spielt?

Steinmeier scheint so ziemlich überall zu sein, wo man sein kann: Facebook, flickr, studiVZ, er twittert und neuerdings bloggt er auch täglich. Anstatt "Er" sollte man wahrscheinlich eher von "Sie", seinem Wahlkampf-Team, sprechen. Obwohl ich die Vorstellung klasse finde, Steinmeier würde sich bei Facebook einloggen und entzückt aufquietschen, wenn er sehen würde, dass jemandem sein "Status" gefällt oder sein Wahlplakat "cool" findet.

In den Statusnachrichten erzählt "er" dann Dinge wie: Es sei "Dienstag Abend im Biergarten spät geworden". Aha, der Gute ist also ein Partylöwe, oder will er damit nur der Jugend ein bisschen besser gefallen? Die Strategie "Volksnah" schreit einem da ja nur so ins Gesicht. Bisschen aufgesetzt wirkt das.

Angela Merkel gibt sich da anscheinend ein bisschen bescheidener. Ich finde sie nur auf Facebook und meinVZ. Wieso sie aber zweisprachig, also Deutsch und Englisch schreibt, ist mir nicht ganz klar. Merkel next president?

Auf den anderen Parteiseiten sieht es auch ganz nett aus. Alle haben ihre Flash-Player, Slider und wie das eben alles heißt.

Alle. Außer die FDP. Die Homepage sieht im Vergleich zu den anderen ein wenig, nun ja, kastriert aus. Doch Rettung scheint zu kommen. Oder wie die FDP es nennt: ein "Tapetenwechsel". Einen Countdown gibt's auch - ein paar Tage noch, dann soll es anders und (hoffentlich) besser werden.

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Wahlkampf 2009: Lustig war's bei der Piratenpartei. Aber sind die auch wählbar?

Lustig war's bei der Piratenpartei. Aber sind die auch wählbar?

(Foto: Foto: getty-images)

Donnerstag, 13.08.09:

Heute setze ich auf Kontrastprogramm: erst FDP- Zentrale abklappern, danach geht's zur Piratenpartei in der Bar25.

Die Straße, in der sich die FDP-Bundesgeschäftsstelle befindet, ist so gelb zugekleistert, dass ich glatt am Haus vorbeilaufe.

Als ich durch die Tür des "Mitmach-Zentrums" gehe, fällt mir sogleich ein Plakat mit einem strahlenden Westerwelle ins Auge. "Damit Arbeit sich wieder lohnt", verkündet er. "Wir sind gegen Mindestlöhne", sagt mir einer der Mitarbeiter dort. Und wie steht es mit 1-Euro-Jobs? "Die bleiben natürlich!" Aber wie lohnt sich denn dann die Arbeit wieder? Er hat einen Supertipp: Ich solle doch das Wahlprogramm durchlesen, da fände ich Antworten. Nur mit den 1-Euro-Jobs, da ist er sich jetzt doch nicht mehr ganz sicher.

Verwirrt, aber mit einer gefühlten Tonne Papier im Gepäck, gehe ich schnell wieder, bevor die mir noch mehr in die Hand drücken.

Weiter geht's zur Wahlprogrammvorstellung der Piraten-Partei in einer hippen Bretterbude namens Bar25. "Die Bar25 passt halt zu uns, und es gibt einen Anlegesteg", sagt mir ein Pirat. Zwei Frauen sehe ich, ansonsten alles Männer aus der Sparte IT-Freak, die von "überforderten Offline-Politikern, die die Maus nicht vom Browser unterscheiden können" sprechen.

Klar sollen meine Daten geschützt sein, aber die Aussage, dass wir schon in einem Überwachungsstaat leben, find ich doch ein bisschen übertrieben. Und ganz ehrlich, auch die Vergleiche mit dem Mauerbau sind ziemlich weit hergeholt.

So richtig traue ich dem Haufen noch nicht: Wollen die nur mitmischen, damit sie Musik und Spiele in Zukunft legal und kostenlos herunterladen können? Oder wollen die wirklich ihr Floß mit einem Sitz im Bundestag tauschen? "Ich finde alle Musik sollte umsonst sein!", sagt einer. Ein bisschen verdächtig ist das schon.

Zum Abschluss gibt's Rum für alle, wie echte Piraten eben. Ich habe sie alleine saufen lassen.

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Wahlkampf 2009: Lange dem Grünen-Chef Cem Özedemir zugehört, für symphatisch erachtet, aber am Ende auch nicht schlauer geworden, wo das Kreuzchen hinkommt.

Lange dem Grünen-Chef Cem Özedemir zugehört, für symphatisch erachtet, aber am Ende auch nicht schlauer geworden, wo das Kreuzchen hinkommt.

(Foto: Foto: dpa)

Freitag, 14.08.09

Als ich am Morgen die tägliche Dosis Zeitung zu mir nehme, erfahre ich, dass 18 Prozent Horst Schlämmer wählen würden - wenn er zur Wahl stehen würde. Überbiss und Bierbauch kommen also fast so gut an wie SPD-Politik. Da sollten sich Steinmeier & Co. mal Gedanken machen.

Zum Mittagessen darf ich einem Interview mit Cem Özdemir beiwohnen, dem Grünen-Chef. Ganz entspannt und sympathisch erzählt er bei Tagliatelle mit Pfifferlingen von dem Wahlprogramm der Grünen. Was auch sonst. Thema Koalition sei für sie relativ offen. Sie wollen eine starke Partei sein, das wäre ihr Ziel. Er redet über seine Arbeit im Europaparlament, was sehr interessant ist und mich merken lässt, wie wenig ich doch eigentlich über das Europaparlament im Alltag höre.

Während das Gespräch nett weiterplätschert, fange ich langsam an zu verzweifeln. Wieso wirken die meisten Politiker, die in den vergangen fünf Tagen kennengelernt habe, so überraschend kompetent und sympathisch? Bin ich Opfer ihrer geschliffenen Rhetorik geworden? Wie soll ich denn da jemals in sechs Wochen ein Kreuz machen, das nicht von Kompromissen gezeichnet ist, weil ich mich einfach nicht entscheiden konnte?

Münte hat am Dienstag gesagt, die 100-Prozent-Partei gibt es nicht. Nichtmal die SPD sei 100-Prozent, er müsse das wissen. Er hat da wohl an schwere Fälle wie mich gedacht.

Ein Blick auf den Kalender lässt mich aufatmen, mehr als 40 Tage noch. Eigentlich Zeit genug eine Entscheidung zu fällen, hoffe ich. Damit ich am 27. September mit gutem Gewissen die Richtigen wählen kann, oder wenigstens die zu drei Vierteln Richtigen.

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