Wahlen in Tunesien:Wie viel Islam bringt die Demokratie?

Tunesien wählt, und dabei geht es um mehr als die demokratische Neuordnung des Landes: Wenn das säkulare Prinzip in der arabischen Welt eine Chance haben sollte, dann in dem gesellschaftlich beispiellos liberalen Land. Doch die Gefahr, dass Tunesien in die Hände radikaler Muslime fällt, ist lange nicht gebannt.

Sonja Zekri, Tunis

Es ging nicht um Gott, den rauschebärtigen Großvater-Gott, der in Marjane Satrapis Comicverfilmung "Persepolis" die Hauptdarstellerin tröstet, wenn ihr der iranische Gottesstaat die Luft nimmt. Es ging um Politik. "Ich wusste, was für ein Film 'Persepolis' ist, aber ich hatte ihn nie ganz gesehen. Gottesdarstellungen sind im strengen Islam verboten, aber für die Islamisten war das nur der Vorwand", sagt Nebil Karoui, Direktor des tunesischen Privatsenders Nessma TV.

Tunisia elections

Schicksalswahl in Tunesien: An diesem Sonntag wird entschieden, in welche Richtung sich das Land, in dem die arabische Revolution im Januar ihren Ausgang nahm, entwickeln wird.

(Foto: dpa)

Anfang Oktober strahlte Karouis Sender "Persepolis" aus, mehr als zwölf Millionen Zuschauer im ganzen Maghreb konnten ihn sehen. Eine TV-Diskussion folgte: Könnte Tunesien nach dem Sturz von Präsident Zine el-Abidine Ben Ali eine Theokratie werden, ein maghrebinischer Iran? Nein, lautete die Antwort aus Nessma TV, aber da hatten die radikalen Islamisten den Fehdehandschuh schon aufgegriffen.

Auf Festivals war der Film gezeigt worden, nun aber hetzten diePrediger, sammelten sich Massen vor dem Fernsehstudio. "Karoui hasst Gott, haben sie geschrieben, er spuckt auf unsere Religion", erinnert er sich. Die Polizei führte Razzien in den Moscheen durch, die bärtigen Salafisten marschierten. Dann zündeten sie Karouis Haus an. "Meine Kinder und meine Frau konnten fliehen. Wäre ich zu Hause gewesen, die Salafisten hätten mich umgebracht."

Karoui entschuldigte sich für "Persepolis" - ein Kniefall, wenn auch, wie er sagt, ein taktischer. "Die Islamisten haben den Konflikt aus dem Bereich der Kultur in die Sphäre des Heiligen getragen." Kurz darauf, immerhin, marschierten Tausende für Meinungsfreiheit. Zehn Monate nach dem Ende der Diktatur hatte Tunesiens Kulturkampf einen dramatischen Höhepunkt erreicht.

Sieben Millionen Tunesier sind an diesem Sonntag aufgerufen, eine verfassungsgebende Versammlung zu wählen. Es ist der erste freie Urnengang seit Ausbruch der Volksaufstände in der arabischen Welt, "die erste freie Wahl in Tunesien seit dem Fall Karthagos", sagt ein Tunesier.

Wie viel Islam wird die Demokratie bringen?

Mit der Selbstverbrennung eines gedemütigten Obsthändlers in der Kleinstadt Sidi Bouzid hatte Tunesien eine Protestwelle ausgelöst, die über die arabische Welt bis Israel, bis zur Wall Street schwappte. Die Wahl am Sonntag könnte erneut Maßstäbe setzen. Tunesien werde der Welt zeigen, dass "Demokratie in der Dritten Welt und in einer islamischen Gesellschaft siegen kann", sagte Premierminister Béji Caïd Essebsi. Islam und Demokratie seien kein Widerspruch. Nur: Wie viel Islam wird die Demokratie bringen?

Die Antwort der tunesischen Sozialdemokraten ist klar: zu viel. In einem Hotel hoch über dem Meer, einen Steinwurf von den Ruinen Karthagos entfernt, haben sich vier Parteifunktionäre zur Abwehrschlacht versammelt. Im Saal sieht man Stilettos, goldene Handtaschen, kein Kopftuch: Vieles an diesem Kulturkampf ist auch ein Klassenkampf.

Ahmed Nejib Chebbi, Gründer der PDP, der Demokratischen Fortschrittspartei, und vielleicht der nächste Premierminister, durfte unter Ben Ali mit seiner Partei legal, aber wirkungslos operieren und war nach der Revolution kurze Zeit Minister. Als Anwalt hat er unter Ben Ali Regimegegner verteidigt. Nun aber hat er einen neuen Feind: En-Nahda, "Wiedergeburt", die Islamisten-Partei von Rachid al-Ghanouchi, die je nach Umfragen bis zu 30 Prozent holen könnte - und nach eigener Aussage die absolute Mehrheit.

Viel Bildung, aber zu wenige Jobs

"En-Nahda will uns dominieren, aber es gibt nur eine politische Ideologie in Tunesien: Demokratie und Offenheit", sagt Chebbi. Neben ihm sitzen Funktionäre säkularer Parteien, von den linken Sozialdemokraten von Ettakatul, denen mit neun bis 14 Prozent etwas weniger Stimmen prognostiziert werden als Chebbis PDP, den Wirtschaftsliberalen von Afek Tounes und den "Modernen Demokraten" der Intellektuellenpartei Pole.

Sie müssten sagen, wie sie das Land nach vorn bringen wollen: Der Tourismus ist um 86 Prozent eingebrochen, die Arbeitslosigkeit ist gewaltig. Viel Bildung, aber zu wenige Jobs - dieser Widerspruch hatte Tunesiens Jugend vor allem im unterentwickelten, konservativen Süden des Landes gegen die Regierung auf die Straße getrieben. Und er treibt sie nun - enttäuscht von der Revolution - in die Arme der Islamisten.

Vor der Wahl aber reden Tunesiens Säkulare nur über En-Nahda. Mehr noch: Sie sind nicht in der Lage, den Islamisten mit einem einigen Wahlbündnis entgegenzutreten. Darüber könne man nach der Wahl reden, heißt es von Ettakatul.

Andere Säkulare haben Gespräche mit den Islamisten geführt. Immer wieder ist die Rede von der Integration der Islamisten und einem "nationalen Konsens". Aber viele fürchten, dass die Religiösen die Säkularen spalten, eine Partei mit dem Amt des Präsidenten oder des Premiers kaufen und in Ruhe die Verfassung für einen islamischen Staat ändern könnten.

Gesellschaftlich beispiellos liberal

Hat das säkulare Prinzip in arabischen Ländern eine Chance? Sind die Säkularen nicht nur Profiteure, Parasiten des alten Regimes, Fremdkörper in naturhaft konservativen Gesellschaften und damit nicht nur unislamisch, sondern sogar unarabisch?

Wenn überhaupt, schaffen die Säkularen es in Tunesien. Ben Alis Polizeistaat war einer der repressivsten der Region, aber gesellschaftlich beispiellos liberal. In der dritten Generation genießen Tunesiens Frauen in Fragen der Bildung, beim Familien- und Erbrecht fast Gleichstellung. Polygamie ist verboten, Abtreibungen erlaubt. Die Parteilisten müssen zur Hälfte Frauen aufstellen. Aber was wird nach der Wahl?

Glaubt man En-Nahda-Gründer Ghanouchi, wird ein Sieg der Islamisten Frauenrechte nur stärken. Auf seiner letzten Pressekonferenz vor der Wahl lächelt er sein Wolfslächeln, verweist auf eine En-Nahda-Kandidatin ohne Kopftuch, die Forderung nach Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung im Parteiprogramm und beschwört die politische Mitte: "Wir sind Mainstream und damit offen nach links und rechts."

Ghanouchi hat Jahrzehnte im Ausland gelebt; als er nach der Revolution erstmals wieder tunesischen Boden betrat, verglichen manche dies mit der Heimkehr Ayatollah Khomeinis nach der Revolution in Iran.

Seitdem wirbt Ghanouchi um Vertrauen. Der Gewalt hat er schon lange abgeschworen und predigt die Versöhnung von Demokratie und Islam wie in der Türkei. Mit den Säkularen gebe es "viele Gemeinsamkeiten", mit den Salafisten, die Nessma TV angegriffen haben, weniger, sagt er: "Wie kann es eine Koalition zwischen den Salafisten geben, die Wahlen für haram, für Sünde halten, und denen, die kandidieren? Zwischen denen, die zerstören und denen, die aufbauen?", fragt er.

Wie unter den Linken gebe es auch unter Islamisten große Unterschiede. Ghanouchi hat dem Prekariat goldene Berge versprochen und viele Tunesier sagen: "En-Nahda soll eine Chance bekommen. Die Islamisten haben unter Ben Ali so gelitten."

Kalifat versprochen

Kritiker aber werfen ihm Doppelzüngigkeit vor: Bei einem Besuch in Kairo habe er das Kalifat, den Gottesstaat, versprochen und vor Exilanten in Paris die Scharia, die in der tunesischen Verfassung bislang nicht auftaucht. Offiziell distanziere er sich von der Gewalt der Salafisten gegen Nessma TV, aber Parteiblätter hetzten gegen den Sender.

Und doch: Wenn es die Demokraten schaffen, dann hier. In Tunesiens Gesellschaft gibt es eine breite Mittelschicht. Nach einem verstolperten postrevolutionären Anfang mit Streiks und Protesten haben Premierminister Béji Caïd Essebsi und eine "Hohe Kommission zur Umsetzung der Revolutionsziele" das Land Richtung Demokratie bugsiert.

Am Sonntag konkurrieren mehr als 80 Parteien und 1000 Listen ohne Prozenthürde um 217 Sitze: Tunesiens Übergangsparlament dürfte bunt werden. Gewählt wird in 33 Wahlkreisen, darunter sechs im Ausland, nach einem eigens entwickelten Modus.

Das neue Organ hat ein Jahr lang Zeit, um eine Verfassung auszuarbeiten und möglicherweise ein Referendum abzuhalten und wird wahrscheinlich eine neue Regierung bestimmen. Nach anfänglichen Materialschlachten wurde der Wahlkampf eingeschränkt: Die Bewerber dürfen Plakate auf nummerierte Felder an die Wände kleben. Keine Billboards, keine Zeitungsanzeigen. Selten wurde in einer Schicksalswahl bescheidener agitiert.

Tausende Beobachter werden die Wahl begleiten. Aber das Klima in Tunesien ist vergiftet. "Von mir aus können sie die Wahlen fälschen, Hauptsache, wir verhindern En-Nahda", sagt eine liberale Tunesierin im eleganten Viertel La Marsa. Ghanouchi wiederum hat gedroht, sollte die Wahl manipuliert sein, werde er eine "zweite Revolution" ausrufen und notfalls "zehn Regierungen" stürzen - ein Trick, um seine Anhänger auf eine Niederlage vorzubereiten, so hoffen seine Gegner.

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