Wahlen in der Türkei:"Ich persönlich sehe keine Zukunft für die Türkei, sondern nur Chaos"

Anhänger von Muharrem İnce am Wahlabend

Anhänger des Erdoğan-Herausforderers Muharrem İnce in Anakara am Wahlabend.

(Foto: Getty Images)

Eine Mehrheit der Türken hat Erdoğan gewählt, in Deutschland haben Anhänger das Ergebnis mit Auto-Korsos gefeiert. Doch wie geht es nun den Gegnern des Präsidenten? Sieben Protokolle.

Von Julia Kitzmann

Die Türkei hat gewählt: Präsident Recep Tayyip Erdoğan wurde mit knapp 53 Prozent im Amt bestätigt, seine Partei AKP stellt - gemeinsam mit ihrem Bündnispartner MHP - die Mehrheit der Abgeordneten im Parlament. Muharrem İnce, der wohl größte Herausforderer, hat den Wahlsieg Erdoğans anerkannt.

Im Wahlkampf schien es so, als hätte die Opposition eine - zumindest kleine - Chance, Erdoğan zu besiegen oder seine Macht zu beschränken. Entsprechend groß ist die Enttäuschung. Acht türkische oder deutschtürkische Wählerinnen und Wähler haben uns erzählt, was sie von dem Wahlergebnis halten und wie es ihnen damit geht.

Deniz Erbay, Generaldirektor einer großen Bank, 38 Jahre, und Daila Erbay, 37 Jahre, Lehrerin. Das Ehepaar lebt im Südwesten der Türkei.

Deniz Erbay:

Ich bin nicht überrascht, aber enttäuscht. Das Ergebnis ist verheerend. Die AKP erreicht mit ihrem Koalitionspartner das Ziel, das Erdoğan sich von Beginn seiner politischen Karriere an gesetzt hat. Schon 1998 sagte er: "Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufspringen, bis wir am Ziel sind." (Dabei handelt es sich um ein Zitat aus einem religiösen Gedicht. Erdoğan, damals noch Bürgermeister von Istanbul, wurde wegen der Aussage zu zehn Monaten Haft verurteilt, von denen er vier absaß, Anmerkung der Redaktion.) AKP und MHP träumen von einem Osmanischen Reich und möchten die Atatürk-Türkei in ein solches Reich umwandeln.

Dass Erdoğan und seine Partei dafür das Atatürk-Bild als Propaganda missbrauchen, finde ich einfach unverschämt. Meine Familie ist wegen Atatürk und wegen der Demokratie in die Türkei eingewandert.

Erdoğan und seine Leute haben das Land bereits verändert, aber diese Veränderungen werden nun immer mehr um sich greifen. Für die Wirtschaft verheißt der Sieg Erdoğans jedenfalls nichts Gutes, es wird schlechter laufen als bisher.

Daila Erbay:

Das Ergebnis ist schrecklich. Ich bin Lehrerin und befürchte weitere Einschnitte. An den staatlichen Schulen gab es bereits zahlreiche Entlassungen. Es wurden viele Lehrerinnen eingestellt, die sehr religiös sind. Daher haben viele Türken ihre Kinder auf Privatschulen geschickt. Ob die nach diesem Ergebnis so frei bleiben, ist mehr als fraglich. Davor haben wir Angst. In der MHP sind sehr gefährliche Leute. Was ich nicht in Ordnung finde, ist, dass auch im Ausland lebende Türken wahlberechtigt sind. Sie können die Politik beeinflussen, obwohl sie hier nicht leben. Zahlreiche Deutschtürken kennen das Land nur aus Urlauben. Sie leben in einer Demokratie, aber wählen jemanden, der antidemokratisch regiert. (Deniz und Daila Erbay sind Pseudonyme)

"Ich fühle mich ohnmächtig"

Sinan A., 23 Jahre, in Hamburg aufgewachsen, derzeit Student in den Niederlanden.

Meine türkische Oma in Istanbul hat am Sonntagmorgen gesagt: "Wenn Erdoğan gewinnt, hat die Türkei verkackt." Und nun ist es tatsächlich so gekommen, das macht mich wütend.

Dabei war in den vergangenen Wochen ein Blitz der Hoffnung in mir aufgeflammt, die Hoffnung auf eine offenere, gerechtere und vor allem freiere Türkei.

Ich bin deutsch und türkisch und während meiner zwei Semester in der Türkei vergangenes Jahr habe ich gemerkt, wie vielen Menschen dort die Luft zum Atmen fehlt: Etwas bedrückt sie. Beton, Bosporus-Brücken und Shopping-Center, wie Erdoğan-Fans dann gerne verteidigend erwähnen, bringen dagegen eben auch nichts. Meine Freunde in der Türkei versuchten wegzuziehen, kapitulierten, waren politikverdrossen. Bis zu diesem Wahlkampf! Denn als die Opposition sich nahezu vereinigte und ernstzunehmende Gegenkandidaten aufstellte, flammte etwas Hoffnung in uns auf. Erdoğan ist eben nicht die Türkei!

Trotz fast vollständiger Kontrolle der Medien stimmt eben doch nur die Hälfte der Leute für ihn. Doch heute die Ernüchterung: Dieses Momentum hat anscheinend alles nichts gebracht.

Jetzt gilt es zunächst zu sehen, ob wirklich alles richtig gelaufen ist und die offiziellen Ergebnisse mit den von der Zivilgesellschaft dokumentierten Zählungen abzugleichen. Aber was passiert, wenn sich da wirklich Unregelmäßigkeiten finden? Die staatlichen Organisationen sind Erdoğans Handlanger. Dennoch hoffe ich, dass das Momentum im Fall von Regelverstößen wieder aufflammt.

Die Wirtschaft leidet unter Erdoğans Behauptungen von "Verschwörungen internationaler Mächte" und die Menschen leiden unter dem Klima der Angst. Absolute Mehrheit und Präsidentschaft werden das nun weiterführen und ihm zudem von nun an alles Mögliche erlauben, ohne dass er dabei kontrolliert werden kann. Die Einschränkungen, die fehlenden Grundrechte und die Eingriffe ins tägliche Leben werden fortbestehen. Ich fühle mich ohnmächtig: Zwar habe ich das Privileg, in Deutschland meine Freiheiten zu genießen und zu atmen, aber was ist mit meinen Freunden dort? Die Luft zum Atmen wird für sie mit Erdoğan auf jeden Fall nicht wiederkommen.

"Das türkische Volk ist im Winterschlaf"

Engin Aydın, 52 Jahre, wohnt in Dachau. Er lebt seit 38 Jahren in Deutschland.

Ich war immer davon ausgegangen, dass es zu einer Stichwahl mit Muharrem İnce kommen und Erdoğan abgewählt werden würde. İnce hätte gewinnen können, das wäre eine super Chance gewesen. Aber es ist jetzt nicht dazu gekommen. Bestimmt gab es Manipulationen. Die gibt es bei jeder Wahl in der Türkei.

Die Wirtschaft ist am Boden, die türkische Lira hat massiv an Wert verloren. Es gab so viel Negatives. Es reicht jetzt. Ich dachte, dass das türkische Volk endlich aufwachen würde. Aber es ist im Winterschlaf - immer noch.

Ich wünsche mir, dass der Vorsitzende der CHP, Kemal Kilicdaroglu, zurücktritt und İnce diesen Posten übernimmt. Innerhalb von 50 Tagen hat er so viel Schwung in das Parteiengerüst gebracht. Er hat so viele Menschen aus ihrem Tiefschlaf erweckt. Ich glaube, in der Türkei wird es nun noch schlimmer. Wirtschaftlich, aber auch gesellschaftlich. Das türkische Volk ist gespalten in Erdoğan-Hasser und Erdoğan-Anhänger. Bisher war diese Spaltung nicht so extrem.

"Wir saßen vor dem Fernseher und haben gehofft, dass es anders kommt"

Servet, 30 Jahre, in Deutschland geboren.

Wir saßen gestern vor dem Fernseher und haben gehofft, dass es anders kommt als erwartet. Aber am Ende habe ich mich nicht gewundert. Bei den letzten Malen war es genau das Gleiche, am Ende waren wir die Traurigen.

Obwohl ich selbst ein Erdoğan-Gegner bin, ist mir bewusst, dass Erdoğan sich in den vergangenen 16 Jahren eine gute Basis in der Türkei geschaffen hat. Davon profitiert er jetzt. Solange er sich für eine Wahl aufstellt, werden sich die Ergebnisse maximal um fünf bis zehn Prozent verändern.

Erdoğan bekommt sehr viele Stimmen in den ländlichen Regionen. Dort ist es den Menschen relativ egal, was in der Außenwelt passiert. Sie schauen vor die Tür, sehen ihr Land und ihren Acker. Für sie zählt, dass es ihnen einigermaßen gut geht. Erdoğan ist für sie der starke Politiker. Die meisten wählen ihn wegen seines Charismas und nicht, weil er bestimmte politische Aufgaben sehr gut umsetzt.

Ich hätte mir gewünscht, dass eine Oppositionspartei an die Macht kommt - am liebsten die HDP. Sie ist jung, frisch, relativ links. Sie hätte frischen Wind gebracht. Aber wenn man es realistisch betrachtet, war das unmöglich. Deswegen wäre mir auch ein Sieg der CHP recht gewesen. Hauptsache, eine neue Richtung. Starke Veränderungen wird es nicht geben. Vielleicht wird Erdoğan in den nächsten Jahren mal versöhnlichere Töne anschlagen. Aber im Großen und Ganzen wird es so weitergehen, wie wir Erdoğan und seine Partei kennen.

(Um Servets Anonymität zu gewährleisten, sind die Informationen zu seiner Person eingeschränkt)

"Dieses Ergebnis ist in jedem Fall nicht normal"

Amir Celik, 36 Jahre, München, lebt seit 2006 in Deutschland.

Das Ergebnis als solches hat mich nicht überrascht, aber der große Vorsprung Erdoğans. Ich hätte darauf gewettet, dass er lediglich mit etwas mehr als 50 Prozent gewinnt. Bei der letzten Wahl war der Sieg deutlich knapper und seitdem ist alles schlechter gelaufen. Das kann ja nicht sein. Das ist alles Schmarrn. Ich habe damit gerechnet, dass sie manipulieren. Aber gleich so viel? Das hätte ich nicht gedacht. Ich weiß nicht, ob das organisiert war. Aber seine Leute machen das auch von sich aus. Dieses Ergebnis ist in jedem Fall nicht normal.

Viele Leute haben gedacht, dass es nach den Wahlen besser wird. Aber ich hatte keine Hoffnung. Daher habe ich am Sonntag die Wahl nicht verfolgt, auch aufgeregt war ich nicht. Das weckt bei mir keine Gefühle. Genauso geht es meinen Bekannten in der Türkei. Vor sechs, sieben Jahren haben wir aufgegeben. Damals hatten wir uns organisiert, wollten über das Internet andere über die Politik informieren. Mittlerweile aber wissen wir, dass das nichts bringt.

Es wird in der Türkei jetzt so weitergehen wie bisher - bis das System irgendwann platzt wegen der wirtschaftlichen Entwicklung. Die Inflation lag bei 13 Prozent, die Arbeitslosigkeit steigt, das Wachstum sinkt und wird noch weiter zurückgehen. Wenn nichts mehr geht, wird Erdoğan von den eigenen Leuten verraten werden - nicht durch eine Wahl, aber durch andere Mittel.

Viele Wähler, auch in Deutschland, sehen in Erdoğan eine Vaterfigur, einen starken Typen. Das ist alles Propaganda. Viele Leute informieren sich nicht und interessieren sich auch nicht dafür. Auch ich habe kaum Zeit, die Politik zu verfolgen. Wer für die Massen der stärkste Redner ist, der kann sie mitziehen.

Man sieht es ja auch in den USA mit Trump, in Russland mit Putin. in Osteuropa, in Italien - überall kommen die an die Regierung, die ein bisschen rechts, die ein bisschen religiös sind. In Deutschland würde mich ein Stimmengewinn der AfD nicht überraschen. Die Leute verstehen nicht, was mit der Welt passiert. Sie sind verzweifelt. Sie vertrauen dann auf "starke" Persönlichkeiten, die alles rückgängig machen oder zum Guten verändern können. Das ist nicht nur die Problematik der Türkei, sondern die Problematik der Welt. Ich finde das traurig. (Amir Celik ist ein Pseudonym)

"Ich persönlich sehe keine Zukunft für die Türkei, sondern nur Chaos"

Deniz Özdal, 36 Jahre, lebt in Istanbul.

Wieder einmal hat Erdoğan die Wahlen gewonnen. Menschen, die wie ich säkular ausgebildet wurden, sind darüber nicht glücklich. Dieses Mal hatten wir gedacht, etwas verändern zu können. Aber es ist nichts passiert!

Die meisten jungen Leute sprechen darüber, das Land zu verlassen. Sie sehen seit einiger Zeit keine Zukunft für sich in der Türkei.

Nach der Wirtschaftskrise 2001 und dem Kollaps der wichtigsten Parteien wurden Erdoğan und seine Partei gewählt. Seitdem haben sie von einem großen, nie dagewesenen Zustrom an billigem Geld profitiert. Erdoğan gab das ausländische Geld aus, konsolidierte gleichzeitig seine Macht und islamisierte das Land. Er wurde zunehmend autoritär und polarisierte die Gesellschaft.

Obwohl er die Politik und das Volk gut kennt, weiß er nicht, wie man regiert. Von Jahr zu Jahr machte er größere Fehler in der Wirtschafts- und Außenpolitik. Nachdem er in den letzten 16 Jahren massive Schulden angehäuft hat, wird die Türkei eine weitere Wirtschaftskrise durchleben, ähnlich wie die in Griechenland. Seine einzigen Gegner werden die Märkte sein, denn seine politische Macht hat er mehr und mehr ausgebaut. Er wird immer stärker durch ökonomische Zwänge gebunden werden.

Ich persönlich sehe keine Zukunft für die Türkei, sondern nur Chaos.

(Deniz Özdal ist ein Pseudonym)

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