Wahlen in der Türkei:"Es ist noch nicht aller Tage Abend"

Präsident Erdoğan wird in Zukunft noch mehr Macht haben als je zuvor. Wohin wird er die Türkei führen? Wie geht es weiter mit der enttäuschten Opposition? Fragen an den Türkei-Experten Günter Seufert.

Interview von Markus C. Schulte von Drach

Der Journalist und Soziologe Günter Seufert forscht bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin zur Türkei. Er ist Autor mehrerer Bücher über das Land und den politischen Islam.

SZ: Vor den Wahlen hatte die Opposition ernsthaft die Hoffnung, zu verhindern, dass Recep Tayyip Erdoğan erneut Präsident wird. Nun hat er klar gesiegt und sein Wahlbündnis verfügt im Parlament über die absolute Mehrheit. Hat Sie das überrascht?

Günter Seufert: Sein Sieg hat mich auch überrascht, aber nicht so sehr. Es war der Opposition vor der Wahl zwar erstaunlich gut gelungen, die alten politischen Grenzen zwischen säkularen Sozialdemokraten, türkischen Nationalisten, Islamisten und teilweise sogar den Kurden zu überwinden. Die große Frage war aber, ob es zu Wählerwanderungen kommen würde zwischen den großen politischen Blöcken - weg von Erdoğan und hin zur Opposition. Dazu ist es nicht gekommen. Und das haben wohl die wenigsten vorhergesehen.

Die Gegner Erdoğans haben sich also zusammengeschlossen, aber dessen Anhänger nicht erreicht. Nun erhebt die Opposition schwere Vorwürfe, die Wahlen seien manipuliert worden.

Es gab am Wahltag tatsächlich viele Ungereimtheiten: In den kurdischen Gebieten kam es offenbar zu Wahlbehinderungen, es gibt in den sozialen Medien viele Berichte von versuchter Wahlfälschung. Und Wahlbeobachter der Opposition sollen behindert worden sein.

Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu hatte das Monopol auf die Bekanntgabe der Auszählungsergebnisse, und sie hat sie veröffentlicht, obwohl sie amtlich noch nicht bestätigt waren.

Erdoğan hat seinen Sieg bereits um 22:45 Uhr türkischer Zeit bekannt gegeben.

Was erstaunlich ist, denn der offizielle Wahlrat, der für die Auszählung der Stimmen zuständig ist, hat erst heute Morgen um zwei Uhr verkündet, dass Erdoğan im ersten Wahlgang gewählt worden ist. Die vorläufigen amtlichen Endeergebnisse liegen übrigens noch immer nicht vor. Das ist alles sehr eigenartig.

Hat die Opposition eine realistische Chance, die Wahl anzufechten?

Nein. Auch beim Referendum über das Präsidialsystem wurden selbst berechtigte Einsprüche im Großen und Ganzen zurückgewiesen. Insgesamt herrscht eine Atmosphäre, die nicht darauf hoffen lässt, dass die Hinweise auf Unstimmigkeiten Folgen haben werden.

Die Bevölkerung in der Türkei wirkte bereits vor der Wahl tief gespalten. Nun fühlen sich die Wahlverlierer möglicherweise auch noch betrogen. Wird das die Kluft noch vertiefen?

Das steht zu befürchten. Weite Teile der Bevölkerung haben vor der Wahl bezweifelt, dass sie korrekt ablaufen wird - sonst hätte es nicht dieses große Engagement gegeben, die Wahlen zu beobachten, und dafür zu sorgen, dass die Auszählungen ordentlich ablaufen. So etwas wie diese Mobilisierung vor einer Wahl haben wir noch nicht erlebt.

Auch wenn er nicht behauptet, sie seien für das Ergebnis entscheidend, spricht der unterlegene Kandidat der stärksten Oppositionspartei immer noch von Unregelmäßigkeiten. Das Vertrauen in den Staat und die Institutionen, die unparteiisch sein sollen, wird nun nicht zunehmen.

Die HDP hat es wieder ins Parlament geschafft. Das freut viele Gegner des Präsidenten. Aber welche Folgen hat das nun tatsächlich?

Dass die Partei es geschafft hat, ist spannend - vor allem weil sie nicht nur in den kurdischen Regionen gewählt wurde, sondern auch viele Stimmen aus dem Westen des Landes erhalten hat, vor allem aus den großen Städten. In Istanbul zum Beispiel ist ihr Anteil an den Wählerstimmen zum ersten Mal sogar größer als im landesweiten Durchschnitt.

Entscheidend ist aber, dass die AKP ein großes Ziel nicht erreicht hat - die absolute Mehrheit im Parlament. Die hat sie jedoch nicht zugunsten der Opposition verloren, sondern zugunsten ihres kleinen, inoffiziellen Koalitionspartners, der extrem nationalistischen MHP.

Was bedeutet das für Erdoğan und die Politik der nächsten Regierung?

Erdoğan wird einerseits Staatspräsident mit sehr großen Vollmachten sein. Andererseits ist mit der MHP jetzt eine Partei das Zünglein an der Waage, die eine noch härtere Linie verfolgt als die AKP, wenn es um Themen geht wie das Verhältnis der Türkei zur EU, die Aufhebung des Ausnahmezustands, die Lösung der Kurdenfrage und Reformen für mehr Rechtsstaatlichkeit.

Günter Seufert

Günter Seufert ist Türkei- und Islam-Experte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik.

(Foto: dpa/SWP)

Bei den Staatspräsidentenwahlen im August 2014 hat die MHP noch gegen Erdogan Politik gemacht. Aber jetzt steht die Partei hinter ihm. Was hat sich geändert?

Die Politik der AKP hat sich der Politik der MHP angenähert. Deshalb unterstützt der Führer der MHP, Devlet Bahceli, heute den Staatspräsidenten, und deshalb stellte er keinen eigenen Präsidentschaftskandidaten auf. Bereits den Wechsel zum Präsidialsystem hat die MHP nicht nur unterstützt, sondern den Prozess sogar initiiert. Die AKP ist - mit gewissen Verzögerungen und teilweise gegen Unlust in der Partei - in den vergangenen Jahren auf die Linie der MHP eingeschwenkt. Das Wahlergebnis schafft den Rahmen dafür, dass dieser Prozess sich fortsetzt

Als Präsident hat Erdoğan dank der Verfassungsänderung doch deutlich mehr Macht als zuvor. Muss er wirklich noch Rücksicht auf die MHP nehmen?

Die Frage ist nur relevant, wenn wir annehmen, dass Erdoğan jetzt, da seine Macht gesichert ist, zu einer eher moderaten Politik zurückkehren will. Das wird mit der MHP schwieriger. Wenn er dagegen die bisherige Politik der innenpolitischen Polarisierung und einer eher antiwestlichen Außenpolitik fortsetzen möchte, dann ist die neue, zentrale Rolle der MHP kein Problem.

Wird Erdoğan seine Wähler enttäuschen müssen?

Die Türkei hat in den vergangenen Jahren einen erstaunlichen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt. Damit hat Erdoğan im Wahlkampf gepunktet. Tatsächlich sieht es inzwischen aber nicht mehr so rosig aus. Wird er seine Wähler nicht enttäuschen müssen?

Das kann passieren. Die Lira hat in den letzten zwei Jahren dem Dollar gegenüber 50 Prozent ihres Wertes verloren, die Lebensmittelpreise steigen, die Türkei ist inzwischen hoch verschuldet. Es wird damit gerechnet, dass sie in den kommenden Wochen oder Monaten beim Internationalen Währungsfonds um Kredite nachfragen muss.

Das bedeutet, dass Erdoğans großzügige Wahlversprechen ein Stück weit zurückgenommen werden müssen. Wahrscheinlich wird es zu Steuererhöhungen kommen, zu Einschränkungen im sozialen Bereich; die Arbeitslosigkeit dürfte weiter steigen. Das wird früher oder später in der Bevölkerung ankommen.

Das heißt, zur frustrierten Opposition kommen dann weitere Teile der Bevölkerung, die Erdoğans Wahl jetzt noch feiern?

Die werden womöglich eine bittere Pille schlucken müssen. Die Frage ist, wie das wahrgenommen wird. Wir wissen aus unserer eigenen Geschichte, dass eine Wirtschaftskrise nicht automatisch zu einer liberaleren Haltung in der Bevölkerung führt. In bestimmten Teilen der Gesellschaft kann es stattdessen zu einer stärkeren Radikalisierung kommen.

Solche Spannungen könnte die Regierung noch anheizen, um von der eigenen Verantwortung abzulenken.

Jetzt hat das Regierungsbündnis erst mal die absolute Mehrheit. Erdoğans Macht ist für die nächsten Jahre gesichert. Eigentlich besteht keine Notwendigkeit für ihn, die Massen in Wallung zu bringen. Es gäbe für ihn jetzt die Möglichkeit, eine Außen- und Wirtschaftspolitik zu betreiben, die auf vernünftige Ergebnisse zielt. Die Frage ist, ob er die Gelegenheit nutzt.

Wird er das tun?

Da lässt sich nur spekulieren. Ich denke, dass er die Gelegenheit nutzen wird, jedenfalls was die Wirtschaft betrifft. Ich kann mir aber vorstellen, dass er den Diskurs aufspalten wird, in einen für die Bevölkerung, in dem er sich zum Beispiel auf ausländische Spekulanten und die Ratingagenturen einschießen wird, und in einen für das Ausland, für internationale Investoren und eventuell den IWF, um einen Weg zu finden, die drohende Finanzkrise in den Griff zu bekommen.

Wir kennen diese Strategie aus anderen Bereichen. Zum Beispiel im Verhältnis zu Israel. Da sehen wir einerseits eine stark anti-israelische Rhetorik und die Türkei versucht, in der Ständigen Organisation der islamischen Konferenz in dieser Frage eine Führungsrolle einzunehmen. Hier gibt es gewissermaßen eine starke Symbolpolitik gegen Israel. Zugleich hat die Türkei hervorragende wirtschaftliche Beziehungen nach Israel hinein.

Welche Chancen sehen Sie für die Opposition, Erdoğan bei den nächsten Wahlen gefährlich zu werden?

Es kommt vor allem darauf an, wie sich die größte Oppositionspartei, die CHP, jetzt entwickelt. Wie sie mit ihrem neuen Star am politischen Himmel, Muharrem İnce, umgeht. Ob sie ihm den Parteivorsitz anvertraut und damit signalisiert, dass sie den Aufbruch, den er verkörpert, ernst nimmt.

Das ist für die türkische Demokratie tatsächlich die Gretchenfrage, die sich in den nächsten Wochen und Monaten klären wird: Ist die CHP zumindest mittelfristig - bis zu den nächsten Wahlen in fünf Jahren - in der Lage, sich für breitere Wählerschichten zu öffnen, auch für konservative und kurdische Wähler? Nur so wird sie aus der 25-Prozent-Ecke kommen. Oder bleibt sie eine kemalistische Partei, die zunehmend verknöchert?

Wie wird in Zukunft das Verhältnis zur Europäischen Union aussehen?

Die EU muss wohl davon ausgehen, dass es derzeit in der Türkei keine Bewegung gibt hin zu mehr Rechtstaatlichkeit und Liberalität. Zugleich haben 47 Prozent der Bevölkerung gegen die Regierung Erdoğan und ihre Politik gestimmt. Die Opposition hat gemeinsam eine demokratische Haltung entwickelt.

Die EU steht vor der Aufgabe, mit der Türkei im Gespräch zu bleiben. Ein Mittel dazu wären Verhandlungen zur Vertiefung der Zollunion. Die Türkei wäre verpflichtet, zumindest in den Handelsbeziehungen ein verlässlicher und einschätzbarer Partner zu sein. In Fragen der Sicherheitspolitik, der Terrorbekämpfung und der Migration ist die Türkei für Europa nur schwer verzichtbar und Zusammenarbeit bleibt notwendig.

Die Beitrittsverhandlungen der Türkei zur EU kann man im Augenblick nur da lassen, wo sie sind: im Winterschlaf. Ein formeller Abbruch ist weder in der EU durchsetzbar noch sinnvoll. Die Türkei hat riesige gesellschaftliche Potenziale. Es ist noch nicht aller Tage Abend.

Unter Erdoğan ist die Religion immer wichtiger geworden. Wird der Islam in Zukunft eine noch bedeutendere Rolle spielen?

Die beiden großen identitären Dimensionen der türkischen Nation sind nun einmal der Nationalismus und der Islam, und die Regierung versucht, sie miteinander zu verschmelzen. Das zeigt sich etwa in der Rhetorik der AKP, die Türkei in der Geschichte, aber auch heute als Hüter der islamischen Welt und als Bollwerk gegen europäische "Imperialisten" und "Kolonialisten" darzustellen. In den letzten Jahren haben die Religion und eine konservative Moralität im Bildungssystem einen größeren Stellenwert bekommen.

Dieser Prozess wird wohl anhalten, aber wir werden sicher keinen offiziellen Dschihadismus sehen, keine Lobpreisungen islamistischer Aktivitäten, die gegen den Westen gerichtet sind. Die Religion dient eher als Zement für die Einheit von Staat und Nation, von Türkentum und Islam.

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