Wahlen im Irak:Bagdads Furcht vor der Armee der Armen

Jahrelang hat Iraks Regierung das Elendsviertel Sadr-City vernachlässigt. Nun werden bei der Parlamentswahl am Sonntag Millionen Einwohner die Gegner von Premier Maliki wählen.

Tomas Avenarius, Bagdad

Über allem liegt ein goldenes Strahlen, denn unter der Führung der Ayatollahs erwarten die Unterdrückten endlich Gerechtigkeit und Freiheit. Ein gigantisches Gemälde grüßt die Einwohner am Eingang von Sadr-City. Es signalisiert auf acht mal vier Meter in Öl Hoffnung für die Menschen. Es zeigt zwei berühmte schiitische Geistliche, die die irakischen Massen zum Aufstand führen.

Nadir Hazoun, der Maler des Propaganda-Bildes, steht vor seinem Werk und sagt: "Es verkörpert die islamische Revolution gegen Saddam Hussein und seine Baath-Partei. Die Menschen erheben sich gegen die Tyrannei, fordern eine islamische Ordnung. Die Nation vereint sich unter der irakischen Flagge."

Das Armenhaus der Stadt

Die Umsetzung der künstlerischen Vision lässt aber auf sich warten. Das Viertel Sadr-City bleibt das Armenhaus von Bagdad. In den Straßen verfault der Müll, vor den Häusern stehen brackige Abwasserlachen, in dem Dreck wühlen Ziegen, Schafe, Pferde und Esel. Über den pfeilgeraden Straßen und Häusern liegt das Brummen riesiger Generatoren. Der Staat liefert kaum Strom, die Einwohner müssen ihn privat kaufen.

Mindestens 2,5 Millionen Menschen leben in der am Reißbrett schachbrettartig angelegten Riesensiedlung. In den sechziger Jahren als "Revolutions-Stadt" erbaut, sollte sie den armen Schiiten aus dem Süden in der Hauptstadt ein besseres Leben bieten. Erfüllt wurden die Versprechen nicht. Weder Saddam Husseins Vorgänger noch der Diktator haben etwas getan für die ausschließlich schiitischen Bewohner von Sadr-City. Den Namen bekam der Stadtteil nach dem Sturz der Diktatur zu Ehren der religiösen Führer. Auch die neue, demokratisch gewählte Regierung, in der die Schiiten-Parteien stark sind, hat die Verhältnisse im Armenhaus von Bagdad nicht verändert.

Das Gemälde des Malers Hazoun zeichnet daher die derzeitige Stimmung gut nach. In Sadr-City hat die radikalste der irakischen Schiiten-Parteien das Sagen, die Sadristen, bekannt als al-Ahrar, die Partei der Freien. Unter der Führung des als Feuerkopf geltenden Predigers Muqtada al-Sadr hatten die Sadristen im innerirakischen Bürgerkrieg nach der US-Invasion an vorderster Front gestanden. Ihre Mahdi-Armee wird für zahllose Gräueltaten gegen die Sunniten verantwortlich gemacht, sie kämpfte als gefürchtete Miliz gegen die amerikanischen Truppen. Bei der Parlamentswahl an diesem Sonntag dürfte ein großer Teil der Einwohner für die Sadristen-Partei stimmen, Sadr-City ist die Hochburg der al-Ahrar.

In letzter Zeit bekennen die Sadristen sich zur Politik statt zum Gewehr. Unter der Führung Muqtada al-Sadrs haben sie bei den Wahlen Chancen, im schiitischen Lager "Vereinigte irakische Allianz" sehr gut abzuschneiden. Der junge al-Sadr ist Sohn und Neffe der beiden von Saddam Hussein ermordeten, auf dem Propaganda-Gemälde gefeierten Geistlichen Muhamed Muhamed Baqir al-Sadr und Muhammed Sadiq al-Sadr. Der politische Erbe der beiden als Märtyrer verehrten Männer lebt derzeit in Iran. Offiziell, um sich dort religiösen Studien zu widmen, in Wahrheit befürchtet er wohl seine Verhaftung, wenn er zurückkehrte. Die große Frage ist deshalb, ob Sadr nach der Wahl in den Irak zurückkommen würde.

Keine Arbeit, keine Versorgung

Hakim al-Sameli tritt in Sadr-City für die Islamisten-Partei an. Er sagt: "Die Regierung von Premier Nuri al-Maliki tut nichts für die Menschen hier. Wir haben für fast drei Millionen Einwohner nur ein einziges Krankenhaus und drei Hospitäler. Es gibt keinen Strom, und das Trinkwasser ist verschmutzt und stinkt. Die Schulen sind miserabel. Es gibt keine Arbeit." Sameli sagt nicht dazu, dass seine Partei Maliki mit an die Macht gebracht hat und selbst mit in der Regierung sitzt. Er war eine Weile Vize-Gesundheitsminister, saß dann wegen Korruptionsvorwürfen eineinhalb Jahre in Haft. Während seiner Amtszeit soll er sich als Politiker der religiösen Spaltung gezeigt und die sunnitischen Angestellten aus dem Staatsdienst verdrängt haben. Er selbst weist dies als pure Propaganda seiner Gegner und der Amerikaner zurück.

Sameli ist tiefgläubiger Schiit und beinharter Islamist. Politik steht bei ihm unter einer frommen Konstante: der Ankunft des Mahdis, der religiösen Erlöserfigur der Schiiten. Die Rückkehr des vor Jahrhunderten verschwundenen Imam Mahdi auf die Erde läutet für die Schiiten den Jüngsten Tag ein. "Ich bin überzeugt, dass ich die Ankunft des Mahdis selbst noch erlebe", sagt Sameli. Die diesseitige Agenda Samelis und seiner Sadristen-Partei ist handfester: "Wir wollen endlich Gerechtigkeit für die sozial Benachteiligten." Sameli fordert eine "islamische Regierung, aber nicht wie bei den Taliban".

Gegen die Amerikaner

Wie so viele andere nahöstliche Islamisten-Parteien verbinden die Sadristen ihre soziale Agenda mit dem Anspruch auf islamistische Herrschaftsformen. Ganz oben auf der Forderungsliste steht die Freilassung der Gefangenen. "Noch immer sitzen Tausende von uns in den Gefängnissen der Maliki-Regierung und der Amerikaner", sagt Sameli. "Sie werden gefoltert und ermordet", behauptet er. Hinter dem zwischen Washington und Bagdad vereinbarten Truppenabzugsabkommen wittert der Sadristen-Kandidat eine Verschwörung. Er vermutet, die US-Truppen wollten "für immer im Irak" bleiben. Wenn die Amerikaner nicht bis 2011 gingen, müsse man "mit allen Mitteln" gegen sie kämpfen.

Das ist eine ernstzunehmende Drohung. Zwar hatte die Armee die Mahdi-Miliz 2008 in einer landesweiten Offensive zusammen mit den US-Truppen in die Enge gedrängt und entwaffnet, Muqtada al-Sadr floh nach Iran. Zweifellos haben die Sadristen aber einen Teil ihres Schießgeräts behalten. Und auch ohne Waffen sind sie schwer einzuschätzen. Als starker Faktor im neuen Parlament, der bei der Bestimmung des nächsten Premiers mitzureden hat, könnten sie das Verhältnis zwischen Bagdad und Washington stark belasten.

Wie sehr die Regierung Maliki den Sadristen misstraut und das Millionenheer der Habenichtse von Sadr-City fürchtet, zeigt sich an der Präsenz der Armee in dem Armenviertel. Mit seinen Tausenden Soldaten, Kontrollpunkten und Straßensperren gleicht Sadr-City vor der Wahl einer von irakischen Truppen besetzten Stadt.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: