Wahlanalyse:Lektionen einer Nacht

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Die Abstimmung war nicht fair, sagen Beobachter, viele Türken sprechen von Manipulation. Doch das kann den Triumph von Recep Tayyip Erdoğan kaum trüben.

Von Christiane Schlötzer

Es ist schon tief in der Nacht, als Recep Tayyip Erdoğan in Ankara auf den Balkon seiner Parteizentrale tritt, das Gebäude wirkt wie ein moderner Tempel, ganz in Weiß, mit hochaufragenden Säulen. Erdoğans Anhänger jubeln, Leuchtraketen werden gezündet. Der Präsident erklärt sich zum Wahlsieger, er lobt sich und das Volk. Die Türken, sagt er, hätten mit einer rekordverdächtigen Wahlbeteiligung von fast 90 Prozent "auch der Welt eine Lektion in Demokratie" erteilt. Zu dieser Zeit ist von Erdoğans Herausforderer Muharrem Ince nichts zu sehen, kein Statement, kein Foto. In den sozialen Medien kursieren Gerüchte, Ince, der Präsidentschaftskandidat der sozialdemokratischen CHP, der größten Oppositionspartei, sei "entführt worden". Und auch bedroht.

Am Montagmorgen erscheint Ince, frisch rasiert, in einem dunkelblauen Anzug, in der CHP-Zentrale und sagt: Alles Quatsch, er sei wohlauf. Ince erkennt Erdoğans Wahlsieg an. Es habe einige Unregelmäßigkeiten gegeben, das schon, sagt er, der Wahlkampf sei auch nicht fair gewesen. Aber Erdoğan habe gewonnen, ohne Zweifel. Ince gibt den Gentleman, der nicht nachtreten will - und sieht sich selbst auch als Sieger. Weil es der CHP gelungen sei, "erstmals seit 41 Jahren über 30 Prozent zu kommen". Ince hat als Präsidentschaftskandidat 30,67 Prozent der Stimmen erreicht. Erdoğan schaffte 52,55 Prozent. Der Unterschied ist beträchtlich. Ince sagt: "Wir müssen mehr arbeiten, um zu gewinnen, müssen wir besser werden."

So viel Realismus war selten bei der CHP. Die Türkei, sagt Ince noch, werde für diese Wahl "einen hohen Preis zahlen", sie müsse jetzt mit dem "Ein-Mann-System" leben. Aber er werde nicht aufgeben. Das klang, als könnte es bald einen Machtkampf um die CHP-Spitze geben. Ince gegen den glücklosen Amtsinhaber Kemal Kılıçdaroğlu, der seit 2010 die Partei führt. Bei der Parlamentswahl kam die CHP nur auf 22,68 Prozent, fast drei Prozentpunkte weniger als im November 2015. "Wir haben nur 50 Tage Zeit gehabt für den Wahlkampf", sagt Canan Kaftancıoğlu, die Vorsitzende der CHP von Istanbul, am Montag der Süddeutschen Zeitung. Dafür sei das Ergebnis "ein sehr großer Erfolg". In Istanbul habe Ince sogar 37 Prozent der Stimmen erhalten. "Wenn wir mehr Zeit gehabt hätten, hätten wir Erdoğan in eine Stichwahl gezwungen", sagt Kaftancıoğlu. Die CHP hat offenbar beschlossen, diesmal nicht allzu frustriert zu sein. "Wir werden weiter kämpfen", sagt Ince.

Aber das neue Präsidialsystem kann erst einmal niemand mehr abschaffen, es verleiht dem Staatschef bislang nie gekannte Macht. Im Parlament hat die AKP nun 293 Abgeordnete, die mit ihr verbündete ultrarechte MHP 49. Das ergibt 342 von 600 Sitzen. Das ist zwar die absolute Mehrheit, aber die Verfassung kann nur mit 400 Stimmen wieder geändert werden. Kommen 360 zusammen, kann ein Änderungsvorschlag auch in einer Volksabstimmung beschlossen werden.

Verehrt wie ein Heilsbringer: Ein Anhänger des Präsidenten vor der Istanbuler Zentrale der AK-Partei. Auch in der Millionenstadt am Bosporus holte Erdoğan die Mehrheit der Stimmen. (Foto: Goran Tomasevic/Reuters)

Die CHP kommt jetzt auf 146 Parlamentarier, die rechte Iyi-Partei auf 45. Auch diese beiden Parteien hatten ein Wahlbündnis geschlossen, das aber ihre Chancen nicht erhöhte. Die prokurdische HDP zieht mit 67 Abgeordneten wieder ins Parlament ein, das sind acht mehr als bei der letzten Wahl. Am Wahlabend musste die HDP lange bangen, sie lag nach den ersten Ergebnissen bei nur acht Prozent, deutlich unter der Zehn-Prozent-Hürde. Für Erdoğan waren die ersten Zahlen dagegen viel zu hoch, fast 60 Prozent, sie fielen dann den ganzen Abend über langsam ab. Die hohen Anfangswerte weckten Misstrauen.

Vor allem in den sozialen Medien verbreiteten sich Manipulationsvorwürfe gegen die staatliche Agentur Anadolu, die an Wahlabenden in der Türkei als einzige Nachrichtenquelle dient. Zudem hatte es schon am Wahltag einige verdächtige Vorfälle gegeben. In der Provinz Şanlıurfa wurde ein Auto gestoppt, in dem sich Säcke mit gestempelten Wahlzetteln befanden, drei Leute wurden festgenommen. In Diyarbakır wurden drei Italiener, in Ağrı drei Franzosen und in Şırnak drei Deutsche festgenommen. Sie wollten angeblich auf Einladung der HDP als Wahlbeobachter tätig werden, konnten nach Angaben der Sicherheitsbehörden aber keine offiziellen Papiere vorlegen. Hunderttausende türkische und auch internationale Wahlbeobachter waren in den Wahllokalen präsent. Die Union der türkischen Rechtsanwälte sammelte 5000 kleinere und größere Beschwerden, berichtete die regierungskritische Zeitung Cumhuriyet. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) beklagte am Montag generell einen "Mangel an gleichen Bedingungen" bei der Parlaments- und Präsidentschaftswahl. Zugleich kamen die Beobachter der OSZE in einem Bericht aber zu dem Schluss, dass trotz etlicher Unregelmäßigkeiten am Wahltag die Regeln "weitgehend eingehalten" worden seien.

Das glauben offenbar auch viele Türken, die Erdoğan nicht gewählt haben. Auf dem Istanbuler Taksim-Platz stehen am Montagmittag ein paar Menschen zusammen und reden über das Ergebnis - ruhig, keiner schimpft, keiner schreit. "Bei einem Unterschied von fast fünf Millionen Stimmen, wenn sie da gefälscht haben, na dann bravo", sagt ein junger Theaterwissenschaftler, der kein AKP-Fan ist. 2014 hatte Erdoğan bei der Präsidentenwahl etwa 21 Millionen Stimmen erhalten, nun waren es 25,4 Millionen, weil ihm auch Wähler der ultrarechten MHP halfen. "Diese Allianz von AKP und MHP wird den Druck auf das Land erhöhen, Erdoğan wird noch selbstsicherer regieren", sagt ein Student, 27 Jahre ist er und will eigentlich weg aus der Türkei. Ein Blumenhändler nimmt auf seinem Plastikhocker Platz, er sagt: "Es gibt keinen anderen für uns außer Erdoğan." Ein Straßenarbeiter mischt sich ein, und sagt: "Wir unterstützen Tayyip, aber er sagt uns: Macht Kinder. Doch der Mindestlohn liegt bei 1600 Lira (295 Euro)." Der Mann sagt: "Wir sind wütend auf ihn, und wir wählen ihn doch. Aber er sollte dem Volk ein bisschen mehr unter die Arme greifen."

© SZ vom 26.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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