SZ-Wahlzentrale:"Merkel lässt sich von Meinungsumfragen die Politik diktieren"

SZ-Wahlzentrale: Vermisst bei Kanzlerin Merkel Weisheit und Gestaltungswillen: SZ-Wahl-Watcherin Thea Dorn

Vermisst bei Kanzlerin Merkel Weisheit und Gestaltungswillen: SZ-Wahl-Watcherin Thea Dorn

(Foto: SZ)

Die Kanzlerin regiert, als folge sie einem Algorithmus, kritisiert die Schriftstellerin Thea Dorn in einer neuen Folge Wahl-Watcher. Sie vermisst Weisheit und Gestaltungswillen.

Interview von Karin Janker

Am Montag hat als letzte Partei die Union ihr Wahlprogramm vorgestellt. Im Wahlkampf treten nun die Unterschiede zwischen ihr und dem bisherigen Koalitionspartner SPD zu Tage. Die Schriftstellerin Thea Dorn, die als Wahl-Watcherin für die SZ den Bundestagswahlkampf beobachtet, hält Wahlprogramme allerdings für geradezu unnötig, wenn man so regiert wie Angela Merkel: Die Kanzlerin lasse sich von Datenanalysen leiten statt selbst zu gestalten. Angesichts dieses Politikstils sieht Thea Dorn für die SPD großes Potenzial - allerdings wisse Martin Schulz es nicht zu nutzen.

SZ: Seit Anfang dieser Woche befindet sich Deutschland offiziell im Wahlkampf: Die Wahlprogramme der Parteien liegen vor. Endlich können wir und die Kandidaten über Inhalte diskutieren.

Thea Dorn: Ich fürchte, Wahlprogramme spielen in unserem demokratischen System eine zunehmend vernachlässigbare Rolle. Das sind doch inzwischen nicht mehr als vage Absichtserklärungen - an die sich letzten Endes aber niemand gebunden sieht. Denken Sie an die Erhöhung der Mehrwertsteuer 2007, niedriger ausfallen sollte, oder den Atomausstieg, der nicht im CDU-Programm stand. Die herablassende Geste, mit der die CDU ihr Wahlprogramm jetzt so spät präsentiert hat, spricht genau diese Sprache.

Welche Botschaft sendet die Kanzlerin damit an potenzielle Wähler?

Dass es, sollte sie wiedergewählt werden, weitergehen wird wie bisher: nämlich mit einer Politik ohne erkennbare Prinzipien, ohne Vorausdenken, ohne echten Gestaltungswillen.

Dirk Kurbjuweit schrieb diese Woche im Spiegel, Merkel mache Politik, als wolle sie einen Schluckauf vertreiben: Sie überrasche und erschrecke. Teilen Sie seine Diagnose?

Nein, ich halte den Vergleich mit dem Schluckauf für eine Verkennung der Tatsache, dass Merkel durchaus planmäßig handelt und strategisch brillant aufgestellt ist. Ihre Strategie ist es, die Stimmung in der Bevölkerung genau zu beobachten und darauf zu reagieren. Sie betreibt Politik, als folge sie einem Algorithmus.

Wie meinen Sie das?

Wenn wir im Internet ein Produkt bestellen, bekommen wir sofort angezeigt, was uns noch gefallen könnte. Weil ein Algorithmus das Kundenverhalten analysiert, glauben Unternehmen zu wissen, was wir als nächstes kaufen wollen. Angela Merkel geht mit einer ähnlichen Strategie ans politische Geschäft heran: Sie gibt den Wählern, was diese zu wollen scheinen. Merkel lässt sich von Meinungsumfragen die Politik diktieren. Denken Sie an die Ehe für alle, bei der jüngste Umfragen gezeigt haben, dass eine Mehrheit in der Bevölkerung inzwischen bereit dafür ist. Schwups, gab Merkel ihren eigenen Widerwillen auf.

Eine solche Politik macht sich abhängig von Umfrageinstituten und Demoskopen - und die lagen in der jüngsten Vergangenheit erstaunlich häufig falsch mit ihren Vorhersagen. Viele Leser, die uns Anregungen für dieses Interviewformat schicken, machen sich darüber Gedanken, was das für die Zukunft der Demokratie bedeutet.

Zurecht, wobei Fehleinschätzungen der Meinungsforscher wie zuletzt beim Brexit oder der US-Wahl in Zukunft wohl das kleinere Problem sein werden. Ich denke, hier haben die Forscher schon dazugelernt und ihre Methoden verfeinert; bei der Wahl in Frankreich trafen die Prognosen ja erstaunlich genau zu. Das größte Problem, das ich bei einer solchen umfrageorientierten Politik sehe, ist kein technisches.

Sondern?

Wenn Politiker wie Unternehmen ihr Angebot ausschließlich an der Nachfrage orientieren, berauben sie sich selbst ihrer Kreativität. Politiker sollten nicht nur auf aktuelle Gefühlslagen reagieren. Sie sollten die Fähigkeit besitzen, vorausschauend zu handeln, Probleme zu erkennen, die ich oder Sie noch gar nicht im Blick haben. Und sie sollten Lösungen entwickeln, die nicht bereits auf dem Tapet liegen. Ich sehne mich nach jenem Typus Politiker zurück, der sich hinstellt und den Bürgern auch mal die Leviten liest, der zu seinen Prinzipien steht, auch wenn diese gerade nicht der aktuellen Stimmung im Land entsprechen.

Kann die Kanzlerin das nicht oder will sie es nicht?

Ich hatte mir, um ehrlich zu sein, von Angela Merkel genau so etwas erwartet: eine Frau aus der DDR, die findet, dass sie Kanzlerin der gesamtdeutschen Bundesrepublik werden muss - das klang vielversprechend, nach einem interessanten Plot, wenn Sie so wollen. Aber meine Erwartungen wurden schnell enttäuscht: Merkel ist durch und durch Naturwissenschaftlerin und besitzt den nüchternsten Politikstil, den man sich vorstellen kann. Aber vielleicht bin ich auch einfach aus der Zeit gerutscht.

Sie meinen, weil Marktforschung und Big Data gerade in aller Munde sind?

Ja, ich beobachte diesen Trend sogar im Literaturbetrieb. Da ist es auch seltener geworden, dass ein Verleger das Potenzial eines Buches erkennt, das dem Zeitgeist eigentlich zuwider läuft, und dann sagt, das machen wir jetzt einfach. So konnte Überraschendes entstehen. Heute gibt es stattdessen Testcover und Marktanalysen. Man will immer zuerst wissen, was der Kunde will, ehe man etwas angeht. Aber damit kommt man nicht weit - weder in der Literatur noch in der Politik.

"Die SPD ist mit der Industrialisierung entstanden und sie wird mit ihr verschwinden"

Aber es muss doch kein Widerspruch sein, dass man den Wählerwillen und die Stimmungslage im Land kennt und trotzdem eine Politik macht, hinter der man als Politiker mit seinen Werten und Prinzipien steht.

Sie haben Recht, ein logischer Widerspruch besteht da nicht. Ein praktischer aber sehr wohl, denn wenn man die Ergebnisse der Marktforschung einmal kennt, ist es schwer, sich davon wieder freizumachen. Und es ist eine Typfrage: Man braucht schon große Lust am Gestalten - und die hat Merkel nicht. Die Kanzlerin besitzt eine hohe technische Intelligenz, aber ich fürchte, ihr fehlt das, was man früher einmal "Weisheit" nannte.

Was meinen Sie mit Weisheit?

Dazu gehört die Fähigkeit, Urteile aufgrund von eigenen Überzeugungen zu fällen und Analysen vorausschauend zu treffen statt immer nur als Reaktion auf Stimmungen oder aktuelle Ereignisse. Aber auch die Phantasie, Dinge neu zu denken. Unsere Welt ist so komplex geworden, dass diese Art der Weisheit unerlässlich ist für eine gute Politikerin oder einen guten Politiker.

Ist das Heranziehen von Datenanalysen nicht auch ein Versuch, der zunehmenden Komplexität unserer Welt zu begegnen?

Das mag sein, aber dieser Versuch kann in einen fatalen Zirkel führen: Wenn Politiker nur noch auf Daten über die Stimmungslage ihrer Wähler starren, werden sie künftige Probleme nicht angehen, sondern nur die, die schon da sind. Dann werden wir irgendwann von der Zukunft eingeholt. Demoskopisierung der Demokratie führt in eine Entmündigung von Politikern. Wir alle erleben Beispiele für solche Entmündigung durch Maschinen und Algorithmen in vielen Alltagssituationen.

Welche Situationen meinen Sie?

Ein Beispiel: Menschen finden nicht mehr von Berlin nach Hamburg, sondern verlassen sich vollkommen auf ihr Navigationsgerät, auch wenn sie das über München nach Hamburg schickt. Eine Übung, die ich mir selbst immer wieder auferlege, um meine Mündigkeit im Straßenverkehr nicht zu verlieren: Ich schaue mir die Strecke zu Hause im Internet an, dann fahre ich los. Und lasse das Navi aus.

Sie werfen Merkel eine prinzipienlose Politik vor - wäre das nicht eine große Chance für Martin Schulz, wenn er sie als überzeugter Sozialdemokrat angreifen würde?

Das wäre es, aber Schulz ergreift diese Chance nicht. Weil er nicht die richtigen Themen findet, um plausibel zu machen, warum die SPD auch in Zukunft noch eine Rolle spielen sollte. Wäre man zynisch, könnte man es so ausdrücken: Die SPD ist mit der Industrialisierung entstanden und sie wird mit ihr verschwinden. Sie war Anwältin der Arbeiter, derer, die durch die industrielle Revolution verloren haben. Aber sie hat nicht im Blick, dass eine neue Revolution der Arbeitswelt bevorsteht: Die Digitalisierung wird in den nächsten Jahren Tausende Jobs kosten. Eine aktuelle Studie der Universität Oxford zeigt, dass in den USA 47 Prozent der Jobs durch Computerisierung gefährdet sind. Unsere Politiker haben das überhaupt nicht im Blick. Keine einzige Partei.

Woran liegt das?

Vermutlich hat es damit zu tun, dass man keine Ängste schüren will. Deshalb träumt die CDU jetzt wieder einmal von Vollbeschäftigung in ihrem Wahlprogramm. Dabei ist es geradezu infantil, die Probleme der nahen Zukunft so lange zu ignorieren, bis sie uns unmittelbar betreffen.

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Thea Dorn, geboren 1970 in Offenbach am Main, ist Schriftstellerin und Moderatorin, seit Kurzem auch regelmäßig im "Literarischen Quartett". In ihren Essays und Büchern ergründet sie die politische Kultur und die Gesellschaft in Deutschland, zum Beispiel in "Ach, Harmonistan" oder "Die deutsche Seele". Zuletzt erschien von ihr der Roman "Die Unglückseligen" (Knaus-Verlag).

Wahl-Watcher

Zur Interviewserie "Wahl-Watcher": In den Monaten vor der Bundestagswahl treten die Konturen der politischen Kultur in Deutschland besonders deutlich hervor. Deshalb beobachten vier ausgewählte Intellektuelle den Wahlkampf und erklären in regelmäßigen Interviews, was dieser über den Politikbetrieb und das Land und seine Bürger aussagt: Die Schriftstellerin Thea Dorn, der Philosoph Michael Hampe, die Sprachwissenschaftlerin Elisabeth Wehling und der Historiker Martin H. Geyer werfen einen Blick auf Deutschland und seine Themen in diesem Wahljahr.

Hier können Sie sich an der Serie beteiligen und uns Ihre Fragen und Anregungen schicken.

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