Wahl: Sieg für flämische Separatisten:Wie lange bleibt Belgien noch Belgien?

Niemand hätte damit gerechnet, dass Bart De Wever und seine flämischen Separatisten so viele Stimmen gewinnen. Viele befürchten schon, dass es Belgien in seiner jetzigen Form bald nicht mehr geben könnte.

Cerstin Gammelin, Brüssel

Am Tag danach sieht Bart De Wever aus wie jemand, den es kalt erwischt hat. Müde Augen, leise Stimme, wirres Haar - nichts verrät den strahlenden Wahlsieger des Vorabends, den Vorsitzenden der Nieuw-Vlaamse Alliantie (N-VA), die es praktisch aus dem Stand auf ein knappes Drittel der Stimmen in Flandern gebracht und damit die meisten Sitze im neu gewählten belgischen Parlament gewonnen hat. De Wever hat ein Ergebnis eingefahren, das so unwirklich erscheint, dass es ihn selbst und seine politischen Gegner offensichtlich in eine Art Schockstarre versetzt hat.

N-VA president De Wever reacts during a party meeting in Brussels

Bart De Wever, strahlender Wahlsieger in Belgien. 

(Foto: rtr)

"Als sei ein Tsunami über das Land gerollt"

"Es ist, als sei ein Tsunami über das Land gerollt", sagt ein belgischer EU-Diplomat, und es klingt beinahe entschuldigend. In der vergangenen Nacht habe wohl kein einziger Politiker des Landes länger als zwei bis drei Stunden geschlafen. "Wir haben zwar gewusst, dass die Separatisten Stimmen gewinnen würden, aber mit so vielen Stimmen hat keiner gerechnet", sagt er. Keiner wage mehr zu prognostizieren, wie lange es Belgien in seiner jetzigen Form noch geben werde.

Eine solche Prognose mag auch der Sieger nicht abgeben, obwohl er im Wahlkampf damit warb, Flandern langfristig als eigenständigen Staat in der Europäischen Union etablieren zu wollen. Von einer Trennung des aus den Flandern, der Wallonie und Brüssel bestehenden Staates Belgien ist nach der Wahl zunächst keine Rede.

De Wever gibt sich am Montagmittag eher wortkarg. Er sitzt in der Ecke eines bescheiden ausgestatteten Saals im Flämischen Parlament in Brüssel und sagt, was alle Wahlsieger sagen: Er wolle jetzt rasch mit den anderen Parteien reden, um zügig eine Regierung zu bilden. "Unser Land kann sich keine langen Verhandlungen leisten."

Belgien sei aufgrund des politischen Dauerstreits der vergangenen drei Jahre tief in die Krise geraten. Die Staatsverschuldung sei fast so hoch wie die Wirtschaftskraft. Die Arbeitslosigkeit steige, die Sozialsysteme würden unbezahlbar. Belgien gelte bereits als "Griechenland im Norden Europas". "Wir müssen unsere Reformen so schnell wie möglich umsetzen, damit unser Land auf den internationalen Märkten wieder mitreden kann", sagt De Wever und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Dazu brauche es schnell eine stabile Regierung. Und, ach ja, das habe er ganz vergessen zu erwähnen, "natürlich bin ich glücklich über den Sieg".

De Wevers N-VA hat von den 150 Sitzen im belgischen Parlament 27 erobert. Die französischsprachigen Sozialisten (PS) liegen mit 26 knapp dahinter, ihre Genossen aus Flandern (SP.A) erhielten 13, so dass die Sozialisten zusammen die stärkste Kraft in der Volkskammer sein werden. Abgeschlagen folgen die französischsprachigen Liberalen MR mit 18, die flämischen Christdemokraten mit 17 sowie flämische Liberale (Open VLD) mit 13 Sitzen. Der rechtsradikale Vlaams Belang hat noch zwölf, dazu gibt es einige Splittergruppen. Um eine Regierungskoalition zu bilden, sind mindestens 76 Sitze nötig. Das bedeutet, dass sich die beiden Wahlsieger aus Flandern und der Wallonie für den Fall, dass sie zusammen regieren wollen, weitere Partner suchen müssten. Traditionell beauftragt der belgische König die stärkste Fraktion mit der Regierungsbildung. König Albert II. hat De Wever am Montag empfangen. Dieser erschien ohne Krawatte, was gegen die Gepflogenheiten verstößt.

Neun verschiedene Koalitionen möglich

Wahlbeobachter halten neun verschiedene Koalitionen für möglich. Das ist in Belgien nicht ungewöhnlich. Die noch amtierende Regierung unter Premier Yves Leterme bestand aus fünf Parteien von flämischen und wallonischen Christdemokraten, flämischen und wallonischen Liberalen sowie französischsprachigen Sozialisten. Er brauchte neun Monate, um diese Koalition zu schmieden.

Belgische Politiker fürchten, dass es gerade aufgrund des imposanten Sieges von De Wever wieder sehr lange dauern könnte, eine Koalition zu bilden. "Vor drei Jahren gab es genau die gleiche Situation", sagt ein Beteiligter. Die flämischen Konservativen hatten damals zwar die Wahl überlegen gewonnen, ihren potentiellen Koalitionären aus der Wallonie konnten sie aber kaum Zugeständnisse machen, ohne die anderen flämischen Parteien damit zu düpieren.

De Wever weiß, dass er in der gleichen Klemme steckt wie damals Leterme. Er muss einerseits die französischsprachigen Sozialisten von seinen Reformen überzeugen, darf aber andererseits die Parteien Flanderns nicht mit zu großen Konzessionen an die Wallonen verschrecken. Und so bleibt er bei allen Fragen erst einmal im Ungefähren. Mit wem er koalieren will? "Wir werden in den Verhandlungen sehen, auf welches Modell wir uns einigen können."

Völlig offen, wie die Koalition aussehen wird

Ob er selbst Premierminister werden will? "Sollte es hilfreich sein, dieses Amt auszuüben, um die angekündigten Reformen umzusetzen, würde ich es annehmen", erklärt er. Mache dagegen ein Koalitionspartner seine Zustimmung von diesem Amt abhängig, bestehe er nicht darauf.

Ob De Wever oder der wallonische Sozialistenchef Elio Di Rupo mit einer Regierungsbildung beauftragt werden, dürfte sich schnell entscheiden. Wie die neue Koalition aussehen, und - vor allem - ab wann sie arbeiten könnte, ist dagegen völlig offen. Beide Spitzenkandidaten signalisierten bereits, mit dem jeweils anderen reden zu wollen.

Di Rupo erklärte die Bereitschaft seiner Partei, an einer Staatsreform mitzuwirken. De Wever sagte im französischsprachigen Fernsehen, seine Partei wolle beiden Sprachgruppen "gemeinsamen Fortschritt" ermöglichen, mithin müssten sich die Wallonen nicht um die Zukunft sorgen. Ob beide das gleiche meinen, muss jedoch bezweifelt werden. Staatsreform heißt in der Wallonie vor allem, den Sozialstaat zu sichern. Die Flamen wollen das Gegenteil, nämlich mehr Eigenverantwortung für die Bürger - und die Landesteile. De Wever lächelt diesen Widerspruch am Montag lieber weg. "Wir müssen jetzt erst mal Vertrauen aufbauen", sagt er.

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