Wahl in Großbritannien:Wind of Change

Gordon Brown ist ein glückloser Linker, der in Großbritannien um seine Macht fürchten muss. Vieles spricht für den elitären Konservativen und den liberalen Aufsteiger, für David Cameron und Nick Clegg. Bei dieser Wahl ist alles anders.

Wolfgang Koydl, London

Der Teamgeist, den die drei größten britischen Parteien zu Beginn des Wahlkampfs beschworen hatten, war eines der ersten Opfer der Kampagne: Er verflüchtigte sich, bevor der Wähler ihn überhaupt zur Kenntnis nehmen konnte.

Montage: sueddeutsche.de

Spannender Dreikampf: Cameron, Clegg und Brown (v. l.)

(Foto: Fotos: AFP; Reuters / Grafik: sueddeutsche.de, Helldobler)

Mitunter sah es so aus, als ob die Briten an diesem Donnerstag keine neue Regierung wählen würden, sondern einen Präsidenten: Gordon Brown, David Cameron oder Nick Clegg.

Gut möglich, dass die Mitglieder des Labour-Kabinetts, die sich anfangs noch gleichsam schützend um ihren Premierminister gruppiert hatten, in der Hitze der Wahlschlacht nicht mehr mit einem Mann gesehen werden wollten, der derart unübersehbar das Stigma des Verlierers trug. Gut möglich auch, dass Tory-Führer Cameron sein Schattenkabinett wortwörtlich im Schatten versteckte, weil viele seiner Mitglieder eher fatal an die alte, ungeliebte Thatcher-Partei erinnern als an die mitfühlend-moderne, runderneuerte Variante, die der Vorsitzende lieber präsentieren würde.

Und ebenso gut möglich ist es, dass Nick Clegg den ursprünglich als Aktivposten gesehenen liberaldemokratischen Wirtschaftsexperten Vince Cable spätestens in dem Moment als störende Ablenkung auf seinen Plakaten betrachtete, als er selbst zum Medien-Darling mit Starqualitäten aufgestiegen war.

Das alles ist denkbar; sicher ist aber, dass es die Fernsehdebatten der drei Führer waren - ein Novum in der britischen Geschichte -, die Personen und Persönlichkeit der Leaders in den Mittelpunkt der Wahlkampagne rückten und Programme und Pläne überflüssig zu machen schienen. In der Tat: Einen Tag vor der Wahl waren sich viele Wähler nicht sicher, was sie von den drei Parteien zu gewärtigen hätten, falls sie die nächste Regierung stellen - außer vielleicht einem dumpfen, aber bislang erfolgreich verdrängten Gefühl, dass harte Zeiten mit schmerzhaften Einschnitten ins soziale Netz und vermutlich auch deutlichen Steuererhöhungen bevorstehen.

Nie zuvor waren daher so viele Wähler so nahe am Wahltermin so unentschlossen. Mehr als 40 Prozent der Befragten, ergab eine Erhebung, hatten sich 48 Stunden vor Eröffnung der Wahllokale noch nicht entschieden, wem sie ihre Stimme geben sollten. Entsprechend wenig aussagekräftig waren denn auch die Umfragen. So sahen die Tory-treuen Blätter Sun und Times meist Cameron vorne, der linksliberale Guardian und das Labour-Blatt Mirror hingegen entdeckten - Wunder über Wunder - in ihren Erhebungen meist Vorteile für Liberal- oder Sozialdemokraten.

Entsprechend unklar ist denn auch der Ausgang der Wahl. Historisch sind die Briten daran gewöhnt, dass jeweils eine Partei eine stabile und solide Mehrheit erhält. Deren Führer fährt dann gleich am Freitagvormittag, nur zwölf Stunden nach der Schließung der Wahllokale, zur Queen in den Buckingham-Palast und erhält von ihr den Auftrag zur Regierungsbildung. Am Nachmittag rollt der Möbelwagen in die Downing Street und schafft die persönlichen Effekten des alten Premiers fort. Drei Wochen später verliest die Königin in der Queen's Speech das Programm der neuen Regierung.

Diesmal aber ist alles anders, und der Grund dafür ist das Erstarken der Liberaldemokraten, der traditionell dritten Kraft und bislang zu vernachlässigenden politischen Größe in der politischen Landschaft Großbritanniens. Zum ersten Mal scheint es ihnen zu gelingen, das alte, binäre System aufzubrechen. Damit aber haben sie alle üblichen Kalkulationen über den Haufen geworfen. Manche Wahlforscher gestanden beispielsweise in einem Anflug zerknirschter Ehrlichkeit bereits ein, dass ihr ohnehin kompliziertes und fehleranfälliges Umrechnungsverfahren von Prozentanteilen in Unterhausmandate völlig versage, wenn sich eine dritte Kraft in die Gleichung schleicht.

Tatsächlich ist alles denkbar: eine Koalitionsregierung der Liberaldemokraten entweder mit Labour oder mit den Konservativen; eine Minderheitsregierung mit stillschweigender Billigung anderer, nationalistischer Gruppen aus Nordirland, Schottland und Wales; oder gar ein Koalitions-Kabinett mit einem liberaldemokratischen Premierminister Clegg und einem Labour-Vizepremier, der dann allerdings nicht Gordon Brown heißen dürfte.

Beigeschmack von undurchsichtigem Kuhhandel

In den meisten kontinentaleuropäischen Parlamenten sind Koalitionen, Absprachen oder Kompromisse der Normalfall. Die absolute Mehrheit einer Partei gilt beinahe als gefährlich. Im System Westminster ist es umgekehrt: Parteiübergreifende Zusammenarbeit hat hier einen Beigeschmack von undurchsichtigem Kuhhandel. Übrigens nicht nur bei Politikern und Wählern. Auch die Finanzmärkte in der Londoner City würden kribbelig werden, wenn sich die Bildung einer handlungsfähigen Regierung für ihren Geschmack zu lange hinziehen sollte.

Ein weiterer Unsicherheitsfaktor betrifft die Abgeordneten, die nach dem 6. Mai ins neue Unterhaus einziehen werden. Zwei Drittel von ihnen werden zum ersten Mal ein Mandat haben. Es sind unerfahrene Neulinge, die mit den mitunter abstrusen Verfahren im Unterhaus nicht vertraut sind. Dies ist eine Folge des Spesenskandals, der so viele Parlamentarier aus allen Parteien gründlich diskreditiert hatte.

Vor diesem Hintergrund überrascht die Meldung nicht, welche die Zeitung Daily Mail kürzlich veröffentlichte. Demnach haben die Tories ihre Geldgeber vorsorglich schon jetzt um neue Spenden gebeten - für einen neuen Wahlkampf. Denn diese zwei Punkte scheinen sicher zu sein: Keine der großen Parteien wird eine Mehrheit im Unterhaus erringen. Eine Minderheitsregierung aber dürfte nicht lange Bestand haben in London. Die Briten könnten deshalb schon bald wieder an die Urnen gerufen werden.

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