Wahl in Großbritannien:Meteorit aus gutem Hause

Die Regierung Brown ist in Bedrängnis - doch die Konkurrenz kommt aus anderer Richtung als erwartet. Der Liberaldemokrat Nick Clegg mischt die britische Politik auf.

Wolfgang Koydl, London. Mit Bildern

Noch vor zwei Wochen hätte man mit der Bemerkung einen Lacherfolg gehabt: Nick Clegg als Regierungschef? Sicher, und die Königin wird in einer Talentshow im Fernsehen singen. Doch mittlerweile findet niemand mehr den Gedanken befremdlich, dass der Parteichef der Liberaldemokraten Premier werden könnte, und der Kandidat spricht sogar selbst offen darüber: Ja, der 43-Jährige möchte Gordon Brown und David Cameron die Schlüssel zur Downing Street 10 streitig machen.

Nick Clegg, Großbritannien, Unterhauswahl; AP

Nick Clegg hat Fans im ganzen Königreich.

(Foto: Foto: AP)

Die Wahrscheinlichkeit, dass ihm dies bei den Unterhauswahlen am 6. Mai gelingen wird, ist zwar noch immer gering. Aber ganz ausschließen will eine derartige Sensation niemand mehr in Britannien, seitdem Clegg bei der ersten Fernsehdebatte der drei Spitzenpolitiker vor zwei Wochen mit der Wucht eines Meteoriten in der politischen Landschaft der Nation einschlug. Bei der dritten und letzten Debatte an diesem Donnerstag wird er seine Wirtschaftskompetenz unter Beweis stellen müssen.

Das bizarre britische Mehrheitswahlrecht, das die "LibDems" bisher schwer benachteiligte, könnte ihnen diesmal nützen: Denn sobald die Partei eine kritische Masse von etwa 36 Prozent der Stimmen erreicht, würde sie mit überdurchschnittlich vielen Mandanten belohnt. Rechnet man die Fehlerquoten von Umfragen ein, sind die Liberalen nur wenige Punkte von dieser magischen Marke entfernt.

Ekstatische Szenen

Kreischende Teenager liegen Clegg zwar noch nicht zu Füßen, wenn er mit seinem knallgelben Wahlkampfbus auf Tournee geht, aber annähernd ekstatische Szenen werden registriert. Die sprachverliebten britischen Medien haben das Phänomen prompt "Cleggstase" getauft, und Leute auf der Straße vergleichen den Liberalen-Chef zuweilen mit Barack Obama - ohne zu erröten.

Entsprechend missmutig und missgünstig grummelt die weniger glamouröse Konkurrenz von Labour und Konservativen, dass es in der Politik auf Inhalte ankomme, nicht auf Show-Qualitäten. Manche wollen sogar einen "Diana-Faktor" beim Wähler erkannt haben - in Anlehnung an jene unenglische emotionale Aufwallung, von welcher der Tod der "Prinzessin des Volkes" begleitet worden war. Unfreiwillig goss Clegg Wasser auf diese Mühle, als er von der "Wahl des Volkes" sprach. Nun ja, was sonst?

Dennoch tut man sowohl dem Kandidaten als auch dem Wähler unrecht, wenn man die Popularität alleine auf gutes Aussehen und einen guten Eindruck bei zwei TV-Debatten zurückführt. Viel entscheidender ist, dass Clegg und seine Liberalen ein Vakuum gefüllt haben. Grundsätzlich haben die Wähler im Königreich nach 13 Jahren Labour genug von den Sozialdemokraten. Aber genauso grundsätzlich trauen sie den von Cameron vielleicht doch nur vermeintlich runderneuerten Tories nicht über den Weg. Außerdem hatten sich beide Parteien im Spesenskandal ihrer Abgeordneten gründlich diskreditiert.

Ein Vakuum gefüllt

Bisher sahen viele Briten nur einen Ausweg aus dem Dilemma: Wahlverweigerung oder eine Proteststimme für eine mehr oder minder degoutante Splitterpartei nach Art der anti-europäischen UKIP oder der rassistischen British National Party. Doch in Clegg steht nun eine Alternative mit tadelloser demokratischer Gesinnung zur Verfügung, die obendrein echten Wandel verspricht.

Neue Alternative zu den Konservativen

Clegg selbst unterstreicht, dass er seine Partei als die neue und künftige linksliberale politische Alternative zu den Konservativen im Land sieht. Die Briten würden sich für eine dieser beiden Parteien entscheiden - und nicht mehr für Labour. Die Zeit dieser Partei, welche die Liberalen in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts als Bannerträger von Fortschritt und Reformen abgelöst hatte, ist nach seiner Überzeugung abgelaufen. "Es gibt keine Regel, die besagt, dass nur, weil eine Partei größer ist als die andere, sich dieses Verhältnis nicht umkehren kann", sagt er.

Vom persönlichen Hintergrund ist Clegg für das Amt des Premierministers mindestens ebenso gut vorbereitet wie der Tory Cameron. Auch er stammt aus einem mehr als nur gutsituierten, wohlhabenden Elternhaus mit einem Château in Frankreich und einem Chalet in den Schweizer Alpen. Cleggs Schule war nicht Eton, sondern die nicht minder elitäre Westminster School im Schatten des Unterhauses. Fürs Studium der Anthropologie musste es dann auch die Elite-Universität Cambridge sein.

Clegg versteht sich als Europäer

So sehr schien Clegg dem Prototyp des jungen Konservativen zu entsprechen, dass er häufig von Tories umworben wurde, etwa von Margaret Thatchers Außenminister Lord Carrington, einem Freund und Nachbar der Familie Clegg. Er schanzte dem jungen Nick einen Job in Brüssel zu, wo er für den damaligen britischen EU-Kommissar Leon Brittan arbeitete. Der war nach eigenen Worten beeindruckt von dessen "Intelligenz, Enthusiasmus und Charme", aber auch ihm gelang es nicht, Clegg die konservative Partei schmackhaft zu machen.

Als Grund für seine Ablehnung nannte Clegg die europafeindliche Grundhaltung der britischen Konservativen, denn er verstand sich immer als Europäer. So gehört er zu den vergleichsweise wenigen Angehörigen des britischen Establishments, die am Europakolleg in Brügge studiert haben. In Kontinentaleuropa genießt diese Einrichtung einen ähnlich guten Ruf wie die Harvard Business School in den USA. Auf der Insel hat man kaum von ihr gehört. Hier lernte er auch seine spanische Ehefrau Miriam Durántez kennen, von der er seine vierte Fremdsprache erlernte - neben Französisch, Niederländisch und Deutsch.

"Was ist eigentlich britisch an diesem LibDem-Führer?"

Cleggs eigene Herkunft ist ebenfalls europäisch gemischt. Seine Großmutter flüchtete mit Hilfe des russischen Schriftstellers Maxim Gorki vor der Oktoberrevolution, seine holländische Mutter vermittelte ihm ein Gefühl für Egalitarismus und tiefe Vorbehalte gegenüber dem britischen Klassensystem. Als die konservative Daily Mail dann noch herausfand, dass Cleggs Pressesprecherin Deutsche ist, stöhnte das Zentralorgan des muffigen Spießbürgertums ebenso entsetzt wie scheinheilig auf: "Was ist eigentlich britisch an diesem LibDem-Führer?"

Seine pro-europäische Haltung könnte Clegg tatsächlich schaden. Briten begegnen allen Importen vom Kontinent mit Misstrauen - egal, ob dies Schlechtwetterfronten, Problemfilme in Schwarzweiß oder Richtlinien der Brüsseler Bürokratie sind. Entsprechend vorsichtig sind daher Cleggs Äußerungen zu Europa ausgefallen. Sowohl ein Beitritt zum Schengen-System als auch die Einführung des Euro sind nach seinen Worten noch lange nicht spruchreif.

Zunächst muss er ohnehin die Schwelle zur Macht überschreiten - als Königsmacher, als Koalitionspartner oder gar als Regierungschef. Vor zwei Wochen hätte dies niemand für möglich gehalten; nun könnte es in zwei Wochen schon so weit sein.

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