Wahl in Frankreich:Ungültige Stimmen für das gute Gewissen

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Millionen Franzosen wollten weder Emmanuel Macron, l., noch Marine Le Pen wählen. (Foto: AFP)

Mehr als vier Millionen Franzosen gaben bei der Stichwahl um die Präsidentschaft bewusst eine ungültige Stimme ab. Stefan Seidendorf vom Deutsch-Französischen Institut erklärt diesen speziellen Protest.

Interview von Thomas Hummel

Bei der Präsidentschaftswahl zwischen dem sozialliberalen Emmanuel Macron und der rechtsnationalen Marine Le Pen haben mit 4,2 Millionen so viele Franzosen wie noch nie eine Stimme abgegeben, die nicht zählte. Dabei werden zwei Formen unterschieden. Es gibt die ungültige Stimme (Vote nul), wenn der Wähler den Stimmzettel stark beschädigt oder unkenntlich macht. Und es gibt die sogenannte weiße Stimme (Vote blanc). Hier gibt der Bürger einen weißen Zettel ab oder einen leeren Umschlag. Die Vote blanc hat seit 2014 Verfassungsrang in Frankreich. Diese Stimmen wirken sich aber nicht auf das offizielle Wahlergebnis aus.

Stefan Seidendorf ist Stellvertretender Direktor des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg. Ein Gespräch über die politische Kultur in Frankreich und warum sich so viele Menschen zu dieser Art des Protests entschlossen haben.

SZ: Woher kommt die Idee der Vote blanc?

Stefan Seidendorf: Es soll ein bewusster bürgerlicher Akt sein, um auszudrücken: Wir sind Staatsbürger, wir nehmen die Wahl ernst und nehmen teil, aber das Angebot passt uns nicht. Es ist ein Zwischending zwischen aktiver Wahl und Enthaltung. Das ist typisch für eine Mehrheitswahl, in der man wie bei der Stichwahl zum französischen Präsidenten zwischen zwei Kandidaten entscheiden muss.

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Viele Wähler mussten offenbar bei der Wahl zwischen Macron und Le Pen einen Kompromiss eingehen.

Gegner dieser Stichwahl nennen das eine "Vergewaltigung der Wähler". Die Anhänger der Vote blanc werben deshalb für diese dritte Wahlmöglichkeit. Es gibt sogar eine Partei namens Citoyens du Vote Blanc (Bürger der weißen Wahl), die die Vote blanc in das Wahlergebnis integrieren will. Wenn dann kein Kandidat mehr als 50 Prozent hätte, müsste neu oder anders gewählt werden.

Kann auch bei den ungültigen Stimmen (Vote nul) eine bewusste Entscheidung vorliegen?

Ich war am Sonntag in Wahlbüros und habe ungültige Wahlzettel gesehen. Da haben Wähler zum Beispiel kurdische Fahnen darauf gemalt, das war kein Versehen, kein zufälliger Fehler. Das war geplanter Protest.

Warum findet diese Art der Wahlbeteiligung in Frankreich so viel Akzeptanz?

Einerseits aus einem staatsbürgerlichen Verständnis heraus, dass der Bürger autonom und emanzipiert ist. Andererseits - das ist meine Lesart - folgt die Linke in Frankreich bis weit in die Sozialdemokratie hinein einer marxistischen Analyse, die besagt: Der Neoliberalismus ist die Vorstufe des Faschismus. Das rührt noch von Erfahrungen aus den 1920er Jahren her. Auf die Gegenwart übertragen bedeutet es, dass Macron nur eine Stufe von Le Pen entfernt sein soll.

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Das konnte man auch von Intelektuellen hören, von Politikern, vor allem von Jean-Luc Mélenchon (Kandidat der linken Bewegung Das unbeugsame Frankreich, Anm.d.Red.). Damit begründen viele Linke ihre Vote blanc. Diese Analyse besitzt den Charme der ideologischen Klarheit, scheitert aber an der gesellschaftlichen Realität im Land. Macron ist ja kein überzeugter Neoliberaler, der nun alles einreißt, sondern hat ein eher ausgewogenes Programm. Und die Gesellschaft ist sozial nicht so festgefügt wie in den 1920er Jahren.

Dennoch klingt es aus deutscher Sicht sehr ungewöhnlich, dass sich mehr als vier Millionen Franzosen an einem Sonntag aufmachen und in eine Wahlkabine gehen, nur um dann bewusst ungültig zu wählen.

Es gab einen massiven Druck unter dem Motto: 'Wahlen sind kein Wunschdenken, kein Ponyhof. Es gibt zwei Kandidaten, ihr müsst den nehmen, der euch näher steht, und wenn die eine Kandidatin Marine Le Pen heißt, ist die Wahl klar.' Dagegen wollten sich viele verwahren, aber ohne dabei als zynisch oder apolitisch abgestempelt zu werden. Es war ein bewusster Akt, um zu sagen: Ich bin widerständig, aber ich bin kein Rechtsextremer. Der Anti-Faschismus gehört zur DNA der links stehenden Bewegungen in Frankreich.

Macron war für viele Linke trotz des Risikos, Le Pen könnte gewinnen, also unwählbar?

Der Wahlkampf war brutal und verbittert und hat Spuren hinterlassen. Es ist nicht so, dass die Leute sagen: Schwamm drüber. Sondern die Gesellschaft ist sehr tief gespalten. Nicht nur in der politischen Meinung. Dahinter stehen echte Klassenkonflikte. Für viele Bürger ist es deshalb sehr schwierig, sich mit dem Projekt von Macron zu identifizieren. Es war zu viel verlangt, sich darauf einzulassen. Für große Teile, vor allem der Linken, war Macrons Vorgehen und sein Programm nicht akzeptabel.

Ein Beispiel: Macrons Bewegung En Marche ist sehr hierarchisch aufgebaut, hierarchischer als jede Partei. Wichtige Entscheidungen werden von Macron und einer kleinen Gruppe Berater gefällt. Die Bewegung La France insoumise (Das unbeugsame Frankreich) von Mélenchon dagegen baut auf das Kollektiv, deren Beschlüsse er umsetzt. Diese Modelle stehen sich konträr gegenüber.

Wäre Le Pen nun knapp gewählt geworden, würde man vermutlich anders über die Vote blanc und Vote nul sprechen.

Klar. Polemisch ausgedrückt würde es heißen: Das waren linke Gutmenschen, die sich ein moralisch gutes Gewissen machen wollten und sich angemaßt haben, die beiden demokratisch legitimierten Kandidaten bewusst abzulehnen. Da geht es mehr um Moral als um Kalkül oder Strategie.

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Nach diesem Ergebnis aber sind die vielen Vote blanc und Vote nul ein starkes Votum. Was bedeutet das für Macron?

Für ihn ist das schwierig. Er sagte am Wahlabend, dass er dies ernst nehme und entsprechend handeln werde. Auf der anderen Seite scheint er nicht bereit zu sein, etwas an seinem Programm zu ändern. Er hat sein Projekt und sein Programm und sagt, er wisse, was das Beste für Frankreich sei. Seine Rechnung wird aufgehen, wenn er schnell Ergebnisse vorweisen kann. Etwa wenn die Arbeitslosigkeit sinkt. Dabei muss man sagen: Macron hat bisher unverschämtes Glück gehabt, eigentlich in seinem ganzen Leben. Es gibt solche Menschen, denen das Glück einfach hold ist, die aber auch ein Gespür dafür haben, wann ihr Moment kommt.

Es kann gut sein, dass Macron nun vom Aufschwung durch die Reformen der Hollande-Regierung profitiert. Die gab es ja durchaus. Francois Hollande war zwar zögerlich und durch den Terror gebremst, aber ein bisschen was hat er schon gemacht. Die wirtschaftlichen Indikatoren waren für Frankreich seit mehr als zehn Jahren nicht mehr so gut wie heute. Ähnlich wie bei Gerhard Schröder, der die Arbeitsmarkt-Reformen durchgesetzt hat. Gewirkt haben sie erst unter der Regierung von Angela Merkel.

Es gibt nun den neuen Begriff der Vote gris (graue Stimme): Das sind die Leute, die Macron unwillig gewählt haben und nun in den Widerstand gehen wollen.

Angeblich haben etwa 40 Prozent nur für Macron gestimmt, um Le Pen zu verhindern. Bei den Linken legen sich viele nun alle möglichen Strategien zurecht. Sie wollen Macron das Leben im Parlament so schwer wie möglich machen. Aber sie sind wohl zu zerstritten und zersplittert, eine Mehrheit werden sie kaum erreichen.

Ist die hohe Zahl der Vote blanc und Vote nul auch als Plädoyer für ein Verhältniswahlrecht zu interpretieren?

Für die Präsidentschaftswahl geht das natürlich nicht, da muss ja eine Person mit der Mehrheit der Stimmen gewählt werden. Aber bei der Parlamentswahl wird sich meiner Meinung nach in den kommenden fünf Jahren etwas verändern. Es gibt schon lange die Debatte, dass das System des Mehrheitswahlrechts die französische Gesellschaft nicht mehr im Parlament abbildet. Vor allem, weil der Front National etwa 20 Prozent Wählerstimmen bekommt, aber nur zwei Abgeordnete stellt.

Das ist tatsächlich undemokratisch. Der Front National schafft es eben nur ganz selten, einen Wahlkreis tatsächlich zu gewinnen, weil sich die anderen Parteien bei einer Stichwahl gegen ihn zusammenschließen. Bei Macron gibt es Überlegungen, zumindest Anteile einer Proporzwahl einzuführen, also zu einem gemischten System ähnlich wie in Deutschland zu wechseln.

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