Waffenruhe im Gaza-Konflikt:Sieger im Schatten

Die Waffen schweigen, die Politiker stimmen Triumphgeheul an: Israel und die Hamas rufen sich jeweils zum Sieger des Gaza-Konflikts aus. Der heimliche Gewinner des Konflikts sitzt aber in Kairo: Ägyptens Präsident Mursi überzeugte als Vermittler nicht nur Präsident Obama, sondern auch seine Kritiker. Vorerst.

Michael König

Seit Mittwoch, 21 Uhr Ortszeit, herrscht Waffenruhe zwischen Israel und der Hamas. Was aber nicht heißt, dass es wirklich ruhig geworden wäre im Konflikt um den Gazastreifen. Nach acht Tagen der militärischen Auseinandersetzung gingen beide Parteien sofort dazu über, Triumphgeheul anzustimmen. Jeder will der Sieger sein.

An "Dankesreden, die auch bei der Oscar-Verleihung nicht fehl am Platz gewesen wären", fühlte sich die Tageszeitung Haaretz im Hinblick auf die Reaktion der israelischen Führung erinnert. Tatsächlich geizte Premier Netanjahu in einem Statement nicht mit Pathos: "Die Terrororganisationen nahmen an, wir würden davor zurückschrecken, gegen sie vorzugehen. Sie haben sich geirrt. Wir trafen ihre erfahrensten Offiziere, zerstörten Tausende ihrer Raketen, entrissen der Hamas die Kontrolle über den Gazastreifen."

Hamas-Führer Chaled Maschal antwortete nicht minder dramatisch: "Der Angriff der Israelis ist fehlgeschlagen und die Führer des Gegners sind mit ihrem Abenteuer gescheitert. Acht Tage des Kämpfens zwangen sie dazu, unseren Bedingungen zuzustimmen. Die Zerstörung, die Israel hinterlässt, ändert nichts an dem Fakt, dass der Widerstand gewonnen hat."

Wer tatsächlich "gewonnen" hat, seine Position im Nahostkonflikt also verbessern konnte, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Die Verlierer stehen dagegen fest: Mindestens 161 Palästinenser und fünf Israelis sollen Schätzungen zufolge seit Beginn der Kämpfe am 14. November ums Leben gekommen sein. Dass es nicht mehr wurden, ist der Diplomatie zu verdanken - und zumindest teilweise auch Mohammed Mursi.

Obamas Telefonmarathon

Die New York Times feiert den ägyptischen Präsidenten als "Schlüsselfigur" auf dem Weg zum Waffenstillstand. Anonyme Quellen aus dem Umfeld von Barack Obama loben Mursi dort in den höchsten Tönen und verweisen auf das Telefon-Protokoll des Weißen Hauses: Selten zuvor habe ein US-Präsident in so kurzer Zeit so häufig mit einem anderen Staatschef Kontakt aufgenommen, heißt es.

Der Weg bis zur Waffenruhe, wie ihn mehrere Medien unabhängig voneinander schildern, sah demnach so aus: Am vergangenen Sonntag - vier Tage nach Beginn der Angriffe auf Gaza - trifft ein Abgesandter Israels in Kairo zu Gesprächen mit dem ägyptischen Geheimdienst ein. Am selben Tag telefoniert Mursi mit Hamas-Führer Maschal.

Am Montag schaltet sich Obama während seiner Reise durch Asien verstärkt in den Konflikt ein. Der US-Präsident ruft von einer Hotelsuite in Kambodscha aus bei Mursi an. Ein Ergebnis des angeblich 25-minütigen Gesprächs ist die Entsendung von US-Außenministerin Hillary Clinton in die Region. Obama telefoniert auch mit Netanjahu. Der ist mit Clinton als Vermittlerin einverstanden. Die Außenministerin trifft sich in Jerusalem mehrmals mit Netanjahu. In Ramallah spricht sie mit Palästinenserpräsident Mahmud Abbas, in Kairo mit Mursi.

Der Waffenstillstand, der zu spät kam?

Bereits am Dienstag scheint eine Einigung in Sicht. Aus ägyptischen Regierungskreisen ist zu diesem Zeitpunkt zu hören, Mursi habe in Gesprächen mit der Hamas und der israelischen Regierung einen Durchbruch erreicht. Eine Waffenruhe könne noch am Abend in Kraft treten. Dazu kommt es bekanntlich nicht - angeblich, weil Israel bis Mittwoch warten will. Auch die unterschiedlichen Flügel der Hamas sollen sich uneinig gewesen sein.

Am Mittwoch, 21. November, explodiert in Tel Aviv ein Bus, 27 Menschen werden verletzt. Es ist seit 2006 der erste derartige Terroranschlag in der zweitgrößten Stadt Israels. "Netanjahus Regierung hat den Moment verpasst, die Kämpfe aus einer Position der Stärke zu beenden. Nun ist der Waffenstillstand eingerahmt von Bildern des zerfetzten Busses mitten in Tel Aviv", analysiert die Haaretz später. Israel beantwortet den Anschlag mit weiteren Luftangriffen.

Verschobene Machtgewichte in der Region

Auf dem Rückflug von Kambodscha in Richtung Washington greift Obama erneut zum Telefonhörer. An Bord der Air Force One dringt er im Gespräch mit Netanjahu dazu, in den ägyptischen Plan einer Waffenruhe einzuwilligen. Nach Beratungen mit seinem neunköpfigen Sicherheitskabinett sagt Netanjahu zu. Obama ruft bei Mursi an und gratuliert ihm.

In Stellungnahmen des Weißen Hauses und des Büros von Netanjahu heißt es später, der israelische Premier habe "Obamas Empfehlung akzeptiert, dem ägyptischen Vorschlag einer Waffenruhe eine Chance zu geben".

Netanjahu inszeniert sich mit dieser gemeinsamen Aussage als wohlwollender Zweifler. Bereit, den Kampf jederzeit wieder aufzunehmen. Das dürfte auch der Wahl am 22. Januar geschuldet sein, bei der Netanjahu sein Amt behalten will. Gleichsam lässt die Erklärung Obama als erfolgreichen Krisenmanager dastehen. Spätestens beim nächsten Aufflammen des Atomkonflikts mit Iran ist Netanjahu auf die Hilfe des wiedergewählten US-Präsidenten angewiesen.

Der Waffenstillstand hat für die Verbündeten jedoch seinen Preis: Israel hat ein Ende der Blockade der Grenzenübergänge zum Gazastreifen versprochen. Washington wiederum soll der Regierung Netanjahu zusätzliche militärische und finanzielle Hilfe zugesagt haben.

Hamas verschiebt das Machtgewicht

Die Hamas verbucht für sich als Erfolg, den Erzfeind mit militärischen Mitteln zu Zugeständnissen gezwungen zu haben. Mit Hilfe iranischer Raketentechnik gelang es den militanten Palästinensern zudem, Tel Aviv und Jerusalem zu beschießen - ein psychologischer Erfolg für die Organisation. Zudem verschob die Hamas das Machtgewicht innerhalb Palästinas zu ihren Gunsten: Die rivalisierende gemäßigte Fatah-Bewegung spielte in dem Konflikt kaum eine Rolle.

Israels Raketenabfangsystem "Iron Dome"

Israels Raketenabfangsystem "Iron Dome"

Den unzweifelhaftesten Erfolg kann jedoch der ägyptische Präsident Mursi für sich beanspruchen. Als Vermittler in dem Konflikt wurde er zunächst kritisch beäugt: Aus seiner Partei, der Muslimbruderschaft, ging einst die Hamas hervor. Kurz nach dem Beginn der israelischen Angriffe entsandte Mursi seinen Premierminister in den Gazastreifen. Von muslimischen "Märtyrern" war die Rede.

Besonders die USA waren skeptisch. Sie hatten in Mursi bislang keinen Verbündeten erkannt. Als im September wegen des Mohammed-Schmähvideos Demonstranten die US-Botschaft in Kairo stürmten, vermisste Washington die Unterstützung des ägyptischen Präsidenten.

"Neue Basis" oder weiter Unberechenbarkeit?

Seit Gaza stellt sich das anders dar: Mursis pragmatisches Vorgehen in der Krise habe Obama tief beeindruckt, schreibt die New York Times unter Berufung auf Berater des US-Präsidenten. Obama habe in Mursi jemanden gefunden, der nicht an Ideologie, sondern an Problemlösungen interessiert gewesen sei.

Ob sich Washington auch künftig auf die neue Führung in Kairo verlassen kann, ist damit allerdings nicht gesagt. Mancher Nahost-Experte sieht bereits eine "neue Basis für die Diplomatie" in der Region gelegt. Andere Kenner der Region warnen davor, in Mursi einen Heilsbringer für die Region zu sehen. Zu unbeliebt sei Israel beim ägyptischen Volk, zu stark der Druck auf die Muslimbruderschaft und in der Organisation selbst, sich klar gegen den Nachbarn zu positionieren.

Unklar ist auch, wie sich das Lob der USA auf Mursis Ruf in der islamischen Welt auswirkt. Einen Besuch bei der Gruppe der "Developing-8-Staaten", zu denen auch Pakistan und Iran gehören, sagte der ägyptische Präsident am Donnerstag vorsichtshalber ab. Er müsse sich um die Einhaltung der Waffenruhe kümmern, hieß es in der offiziellen Begründung.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: