Vorgehen gegen Gülen-Bewegung:Die Türkei, ein halb offenes Gefängnis

Vorgehen gegen Gülen-Bewegung: Türkischer Alltag: Polizisten nehmen eine Lehrerin fest, die in Diyarbakır gegen die Entlassung von Kollegen protestiert.

Türkischer Alltag: Polizisten nehmen eine Lehrerin fest, die in Diyarbakır gegen die Entlassung von Kollegen protestiert.

(Foto: Ilyas Akengin/AFP)

Nach dem Putschversuch wurden 32 000 Menschen festgenommen, Zehntausende verloren ihren Job. Selbst die Kinderserie "Biene Maja" ist nicht sicher.

Von Mike Szymanski

Der Hilferuf kommt mit der Post. Abgestempelt am 21. September, aufgegeben auf einem Postamt in der türkischen Schwarzmeer-Provinz Zonguldak. 21 verhaftete Richter und Staatsanwälte melden sich da zu Wort, jemand muss den Brief aus ihrem Gefängnis herausgeschmuggelt haben. Handgeschrieben ist er, drei Seiten lang.

Die Juristen sind weggesperrt in einem der gefürchteten Hochsicherheitsgefängnisse des Landes, Kandıra. Und sie klagen an: Fünf Stunden lang seien sie - gefesselt in einem Auto ohne Fenster - dorthin gebracht worden. Kein Licht, keine Klimaanlage. Sie hätten weder zu trinken noch zu essen bekommen. Kurz nach dem Putschversuch am 15. Juli seien sie festgenommen worden. Was nur sei ihr Vergehen? Für die Sicherheitsbehörden waren sie auf einmal Terroristen. Unterstützer des Predigers Fethullah Gülen, den Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan für den blutigen Aufstand von Teilen des Militärs verantwortlich macht. Der Brief ist immerhin ein Lebenszeichen. Denn den Gefangenen bleibt, wie sie schreiben, der Kontakt zu Familien und Anwälten verwehrt.

Die Türkei hat sich verändert. Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu sagt, sein Land ähnele heute einem "halb offenen Gefängnis". Tatsächlich sind seit dem Putschversuch 32 000 Menschen festgenommen worden, so die offiziellen Zahlen des Justizministeriums. Ermittlungen laufen gegen 70 000. Zehntausende haben ihren Job verloren - sei es als Lehrer, Polizist oder Steuerbeamter. Sie wurden entweder suspendiert oder entlassen. Dutzende Fernsehsender und Zeitungen hat die Regierung per Dekret geschlossen. Selbst die ins Kurdische übersetzte "Biene Maja" im Kinderfernsehen scheint die Regierung zu fürchten.

Präsident Erdoğan besitzt nun die Machtfülle, die er immer wollte. Und er nutzt sie

Unmittelbar nach dem Putschversuch stellte man die Frage: Wo fängt man an bei der Aufarbeitung der Gewaltnacht? Jetzt aber lautet sie: Wo hört das alles auf?

Am Montagabend hat das Kabinett den Ausnahmezustand um 90 Tage verlängert. Und am Dienstag hat die türkische Polizei fast 13 000 Beamte suspendiert. Es ist die Fortsetzung einer Politik, die Erdoğan vor Wochen so beschrieben hat: Man sei dabei, ein Komma zu setzen. Beim Punkt ist er noch lange nicht angekommen.

Der Prediger und einstige Weggefährte Erdoğans, Fethullah Gülen, hatte tatsächlich über Jahrzehnte sein eigenes Unterstützernetzwerk im Staatswesen aufgebaut. Nun will Erdoğan es bis in die Kapillaren des Staates auslöschen. Es genügt, sein Kind auf eine Gülen-Schule geschickt oder in der Vergangenheit einen Kredit einer Gülen-nahen Bank aufgenommen zu haben, schon steht man in der Post-Putsch-Türkei unter Terrorverdacht. Und die gesamte Familie gleich mit.

Neulich tauchte ein Foto auf aus dem Jahr 2012. Es stammt aus der Zeit, bevor Erdoğan und Gülen sich überwarfen. Zwölf Abgeordnete von Erdoğans islamisch-konservativer Regierungspartei AKP besuchten Gülen in seinem Exil in Pennsylvania. "Wir waren nur 15 Minuten dort", erklärte nun einer von ihnen, "wir waren neugierig", sagte eine andere. "Der Vorstand wusste Bescheid", rechtfertigte sich ein Dritter. "Es herrscht regelrechte Hysterie", sagt Emma Sinclair-Webb, Türkei-Direktorin der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. "Es traut niemand mehr dem anderen." Und es geht längst nicht mehr nur um angebliche Gülen-Anhänger. Anfang September hat die Regierung fast 12 000 Lehrer wegen mutmaßlicher Unterstützung der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK freigestellt.

Tägliche Hilferufe aus den Gefängnissen

Der Ausnahmezustand erlaubt es Erdoğan, per Dekret zu regieren. Jetzt erlebt er die Machtfülle, die er sich immer gewünscht hat. Für Oppositionschef Kılıçdaroğlu ist die Sache eindeutig: Erdoğan versuche nur, seine Position zu stärken - und die Opposition zu schwächen.

Der gesamte Staatsapparat befindet sich im Umbau. An die Stelle der Entlassenen und Suspendierten rücken Regierungstreue. In den Schulen wird die Putschnacht zur Erzählung darüber, wie Erdoğan und die Bürger Seit' an Seit' für die Demokratie kämpften. Und gleichzeitig war das Parlament noch nie so machtlos, waren noch nie so viele Kritiker im Gefängnis wie jetzt.

Mustafa Yeneroğlu ist Abgeordneter der Regierungspartei AKP und Vorsitzender des Menschenrechtsausschusses im türkischen Parlament. Den Vorwurf, dass in der Türkei das Recht ausgehebelt werde, lässt er nicht gelten. Er war in der Putschnacht im Parlament, als es von Kampffliegern angegriffen wurde. Yeneroğlu und andere Abgeordnete aller Parteien fürchteten um ihr Leben. Nun verteidigt er die Härte, mit der die Behörden mutmaßliche Putschisten jagen und alle, die angeblich den Staat infiltriert haben. "Wenn es Kritik, wenn es Beschwerden gibt, sorgen wir dafür, dass die Probleme behoben werden."

Verhaftete Richter und Staatsanwälte glauben nicht an einen fairen Prozess

Allein bei ihm hätten sich 700 Bürger darüber beklagt, zu Unrecht suspendiert oder entlassen worden zu sein. Auch einige Inhaftierte hätten sich über überfüllte Gefängnisse beschwert, das seien aber Einzelfälle. Und Folter? Das Wort will der AKP-Mann nicht in den Mund nehmen. Strafrechtsrelevante Fälle, so lautet die Formel, die er benutzt. "Wir bringen solche Fälle selbst zur Anzeige." Ob als Reaktion auf den Putschversuch Unrecht geschehen sei? "Das werden die Gerichte feststellen."

Die verhafteten Richter und Staatsanwälte indes glauben nicht daran, einen fairen Prozess zu bekommen. Deshalb haben sie ihr Schreiben an Human Rights Watch geschickt. Emma Sinclair-Webb bekommt täglich solche Hilferufe. Natürlich habe der Staat "das Recht und sogar die Verpflichtung", den Putschversuch zu ahnden, sagt sie. Aber das könne nicht bedeuten, den Rechtsstaat außer Kraft zu setzen.

Nach Erkenntnissen der Menschenrechtsorganisation hat noch kein Prozess begonnen. Die Justizbehörden - mit am stärksten von den Entlassungen betroffen - müssten Tausende Anklageschriften verfassen. Eine Anwältin, die vier mutmaßliche Putschisten verteidigt, sagt: "Halb so viel Personal muss doppelt so viel Arbeit erledigen." Nichts gehe voran, für die Beschuldigten sei die Lage unerträglich. Sie würden in den Gefängnissen festsitzen, als seien sie bereits verurteilt. Nun kämen mehr dazu, weil auf den Ausnahmezustand der Ausnahmezustand folgt.

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