Vor 50 Jahren: Eichmann-Prozess:Raffinierter als die Holocaustleugner

Viele sind dem Ingenieur der "Endlösung" auf den Leim gegangen. Die Historikerin Bettina Stangneth beweist, wie Adolf Eichmanns Auftritt vor Gericht in Jerusalem den deutschen Vergangenheitsbeschweigern zupass kam.

Ronen Steinke

Ein leises Summen. Daraufhin die Bitte des Gastgebers Willem Sassen an einen seiner Gäste: "Können Sie einmal die Fliege damit treffen?" Eine unbekannte Stimme bejaht, ihr Inhaber holt mehrmals zum Schlag aus und zieht darüber das röhrende Gelächter der sonst so disziplinierten Männerrunde auf sich. Sassen: "Eine jüdisch veranlagte Fliege ..." Noch ein Schlag. "Leichenfliege."

Vor 50 Jahren begann der Prozess gegen Holocaust-Taeter Eichmann

Vor 50 Jahren begann in Jerusalem der Prozess gegen den Cheforganisator des Holocaust: Adolf Eichmann.

(Foto: dapd)

Diese Stimmen im Wohnzimmer des niederländischen Nazi-Verehrers Sassen in Buenos Aires haben zwar inzwischen größtenteils ein Gesicht bekommen. In ihrer Mitte Adolf Eichmann, der rasend ehrgeizige Cheforganisator des Holocaust, und um ihn herum jener harte Kern NS-verherrlichender Publizisten, die in den fünfziger Jahren von Argentinien aus den deutschen Markt beliefern.

Was genau sie so oft und so geschäftsmäßig zusammenbringt, darum ranken sich allerdings noch bis heute geschickt lancierte Lügen - wie die Autorin Bettina Stangneth nun in einer akribischen Neuannäherung aufzeigt.

Es geht um die berühmten Gespräche, die Eichmann später, um Ausflüchte bemüht, zum Resultat seiner Überrumpelung durch den (angeblich nicht ohne Hintergedanken reichlich Whisky ausschenkenden) Journalisten Sassen kleinzureden versucht und die der geschäftstüchtige Sassen, um Einkünfte bemüht, als Eichmanns Memoiren anpreist. Unter der Überschrift "Eichmanns Memoiren" stand auch die erste brauchbare Auswertung der Protokolle, welche die Historikerin Irmtrud Wojak 2001 veröffentlichte. An genau dieser Überschrift meldet Stangneth nun Zweifel an.

Ihr Vergleich von Tonbändern, Protokollen und den Bergen von Papier, die Eichmann und seine argentinischen Kameraden, jeder für sich, beschrieben, zeigt überzeugend: Weder hatte Sassen seine Schreibkräfte in Buenos Aires tatsächlich angewiesen, die Diskussionen in Form eines Interviews zu protokollieren (es sollte ein Fließtext daraus gemacht werden, der alle Sprecher zu einem verschmilzt), noch sollten die vielen persönlichen Anekdoten Eichmanns, die für Memoiren ja nicht unwesentlich wären, überhaupt in die Protokolle eingehen. Die Sassen-Runde, argumentiert Stangneth, hatte Ambitionen, die mit einem "Memoirenprojekt" noch geschickt verharmlosend umschrieben sind.

Sendungs- und wirkungsbewusster Holocaustleugner

Mit der fachlichen "Autorität" des ranghöchsten noch lebenden Judenvernichters rechnet Eichmann seinen begeisterten neuen Kameraden eine Mordbilanz von nicht einmal einer Million jüdischen NS-Opfern vor - von denen ein Großteil bei alliierten Bombenangriffen umgekommen sein müsse. Zeitweise spricht er sogar davon, sich mit dieser Kalkulation im Gepäck der westdeutschen Justiz zu stellen (in der, freilich nicht abwegigen Erwartung, dort mit vier bis sechs Jahren Gefängnis davonzukommen).

Den Schritt ins Rampenlicht will er dann aber doch auf bequemere Weise tun: Eichmann arbeitet an einem "offenen Brief" an Bundeskanzler Adenauer, der jedoch nie abgeschickt wird. Die Bleistiftnotizen hierfür hat die Autorin nun erstmals geborgen. Eichmanns ausführliche Behauptungen hinsichtlich einer "Lüge von den sechs Millionen" sollten auf diesem Wege in den Bundestagswahlkampf 1957 platzen.

Eichmann, ein derart sendungs- und wirkungsbewusster Holocaustleugner - dieses Bild ist tatsächlich neu, obgleich sein Ehrgeiz als Manipulator es nicht mehr ist. Schon Eichmanns grausame Effizienz als "Judenreferent" beruhte schließlich nicht unwesentlich darauf, dass "ein Mensch nun einmal voraussetzt, dass es einen Sinn haben muss, wenn man Gepäck ,mit in den Osten' nehmen soll und wenn man vor der ,Entlausung' gebeten wird, sich den Platz der eigenen Garderobe zu merken", wie die Autorin schreibt. Und auch das Schauspiel vom vermeintlich kleinen, durch nichts als Pflicht angetriebenen Rädchen in der Vernichtungsmaschinerie, das Eichmann fünfzehn Jahre später vor seinen Richtern in Jerusalem zur Aufführung bringt, ist mittlerweile als geschickte Selbstinszenierung entlarvt.

Eichmann plante, einen Brief an Adenauer zu schreiben

Eichmann ist in der Sassen-Runde zwar der Erste, der die Strategie der Holocaustleugnung fallen lässt: Die neuen Kameraden schockiert er bekanntlich mit dem plötzlichen Bekenntnis zum ganzen Ausmaß der Judenvernichtung. Das gemeinsame Projekt Holocaustleugnung kann damit als erledigt gelten. Aber als er am 11. April 1961 zum ersten Mal vor seine israelischen Richter treten muss, zeigt sich, dass er das Ziel der kameradenfreundlichen Umdeutung der Geschichte keineswegs fallengelassen, sondern lediglich einen wesentlich wirkmächtigeren Argumentationsweg dafür gefunden hat.

In Jerusalem gibt Eichmann den roboterhaften deutschen Beamten - wie schmerzhaft sei doch die Einsicht, dass seine Treue missbraucht wurde! Und während die plumpe Holocaustleugnung in den darauffolgenden Jahrzehnten nur noch bei Rechtsradikalen, dem vereinzelten Piusbruder und iranischen Diktatoren zu finden sein wird, ist dieser neuen, subtileren Inszenierung Eichmanns nun tatsächlich Breitenwirkung vergönnt. Hannah Arendt ist bei weitem nicht die einzige Beobachterin (sondern nur die eloquenteste), die sie in alle Welt trägt.

Durch die Adenauer-Republik kann ein Aufatmen gehen: Nicht nur hat der einstige interministerielle Koordinator für die "Endlösung" kaum mit dem Finger auf ehemalige Kollegen gezeigt, weshalb die befürchteten Erschütterungen und Personalwechsel in der Bundesrepublik ausbleiben. Mehr noch: Die westdeutsche Nachkriegsjustiz, welche NS-Täter routinemäßig zu motivationslosen Gehilfen einer einsamen Spitze aus Hitler, Himmler und Heydrich verniedlicht, um Strafmilderungen zu ermöglichen, kann sich während des Prozesses über eine höchst plastische "Bestätigung" ihres apologetischen Täterbilds freuen.

Im Verlauf ihrer Studie tritt Stangneth recht oft selbst in den Vordergrund. Nicht nur wahrt sie bestechend hohe Standards der Quellenkritik, sondern sie erklärt diese auch immer wieder in Abgrenzung zum bisherigen Forschungsstand. Und nicht immer tut sie ihren Lesern den Gefallen, dies in die Fußnoten auszulagern. Doch die Mühe lohnt sich. Eichmanns Auftritt in Jerusalem, der sich an diesem Montag zum 50. Mal jährt, erscheint vor dieser fulminanten Grundlagenstudie als Inszenierung, die von noch längerer Hand vorbereitet war als bislang bekannt - und deren politische Vorzüge der bestens informierte Eichmann zuvor sorgfältig gegen die Vorzüge einer alternativen Inszenierung abgewogen hatte.

BETTINA STANGNETH: Eichmann vor Jerusalem. Das unbehelligte Leben eines Massenmörders. Arche 2011. 656 Seiten, 39,90 Euro.

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