Vor der Wahl im Kongo:Ein Ausweis der Hoffnung

Warum es für die Menschen des kriegsgeschundenen Landes so ungeheuer viel zählt, dass sie nun ihre Stimme für die Demokratie abgeben können.

Stefan Klein

Sie weiß noch, wann es anfing. Sie kennt den Wochentag, sie kennt das Datum. Sie weiß noch, dass sie Stunden vorher in der Kirche gewesen war. Gewalt gegen eine 17-Jährige: Es ist mehr als drei Jahre her, aber Claudine Mirindi Ntagulwanguma, heute zwanzig, weiß alles noch, obwohl sie so gerne vergessen möchte. Sie sagt, sie versuche die Erinnerung auszulöschen, aber es gebe Tage, da gehorche ihr Gedächtnis nicht. Wie sollte es auch?

kabila, Anhänger, ddp

Anhänger des amtierenden Präsidenten Joseph Kabila bei einer Wahlkundgebung

(Foto: Foto: ddp)

Der Bub an Claudines Seite ist zweieinhalb Jahre alt. Er hat eine Rotznase, große, runde Augen und heißt Asifiwe. Das bedeutet "Ehre sei Gott", und es muss eine schon sehr gläubig sein, die ein solches Kind von einem solchen Vater Ehre sei Gott nennt. Ein kleiner Junge, so unschuldig, wie einer nur sein kann, und der doch alles präsent hält, was seine Mutter weggeschlossen haben möchte. Und nun auch noch dieser Journalist mit seinen Fragen.

Christian Amani Mapendano hat daran geglaubt, und es hat funktioniert. Er ist unversehrt aus dem Buschkrieg heimgekommen - unversehrt bis auf die kleinen Narben überall auf seinem Körper. Die aber waren ja gerade sein Schutz. Mit etwas Scharfem die Haut aufritzen und dann das schwarze, vom Medizinmann zusammengemixte Pulver darüber streuen - das war die Methode der Guerillakämpfer der Mayi-Mayi, um die Kugeln aus den Waffen des Feindes abzulenken. "Meine Garantie", wie Christian sagt.

Einmal sei er wirklich schwer unter Beschuss geraten, aber die sieben auf seine Brust gezielten Kugeln hätten nur das Hemd ein wenig beschädigt - auf seiner Haut keine Spur. Jetzt ist Christian Amani Mapendano wieder, was er auch vor dem Krieg war: Student. Aber von dem Zauberpulver hat er ein bisschen was mitgenommen in den brüchigen kongolesischen Frieden. Er sagt, sicher sei sicher.

Der Geruch des Elends

Ein steiler Hang, ein halb verfallenes Lehmhaus mit einem verrosteten Blechdach. Von der Decke innen hängt ein Kabel mit einer Fassung, aber ohne Birne. Die Zeiten, als es hier noch Strom gab, sind lang vorbei. An der Wand ein vergilbtes Foto vom Papst, aber es ist noch der alte. Zwei Leute wohnen hier, Ehemann und Ehefrau. Ein langes und entbehrungsreiches Leben hat sie krumm und schief gemacht.

Michel und Suzana, Namen, die einen Klang von Jugend haben, aber die beiden haben noch die belgische Kolonialzeit erlebt. Sie sagen, damals hätten sie ihr Auskommen gehabt, jedenfalls das materielle. Heute haben sie nichts mehr außer ein paar Süßkartoffeln hinterm Haus, es reicht noch nicht mal für den Tee am Morgen. Den Krieg haben sie überlebt, versteckt in ihrem Haus, aber wofür? "L'odeur de la misère", sagt die alte Suzana, das sei zur Essenz ihres Lebens geworden - der Geruch des Elends.

Ein Opfer sexueller Gewalt, ein Guerillakrieger, ein altes, zum Sterben elendes Ehepaar. Alle leben sie in Bukavu am Ostrand des Kongo, alle sind sie lebende Beispiele für das, was mit diesem Land geschehen ist. Für seinen sozialen und moralischen Verfall, für eine Verzweiflung, die so groß ist, dass in ihrem Schatten atavistische Vorstellungen wieder aufleben - und Sehnsucht nach der Kolonialzeit.

Und doch, so aberwitzige Volten schlägt manchmal das Leben, sind sie alle drei auch Beispiele für ein kleines bisschen Hoffnung - gerade soviel wie auf ein kleines Plastikkärtchen passt. Soviel wie sich durch eine Stimme ausdrücken lässt.

Eine Wahlstimme. Zum ersten Mal seit Menschengedenken hat der kongolesische Staat wieder mal eine Leistung für seine Bürger erbracht. Alles hat er verlottern und verkommen lassen, die Straßen, das Gesundheitswesen, das Bildungssystem, die Sitte, den Anstand, aber nun lässt er unter internationalem Druck am 30. Juli ein Parlament und einen Präsidenten wählen, und dafür hat er Wähler registrieren lassen.

26 Millionen Wähler

26 Millionen sind dabei zusammengekommen, und jeder Registrierte hat ein Kärtchen erhalten, das schon deshalb ein kleines Wunder darstellt, weil darauf nicht nur die persönlichen Daten, Name, Geburtsdatum, Geburtsort, Namen der Eltern, verzeichnet sind, sondern auch das eigene Gesicht zu sehen ist. Ein Gesicht, das vermutlich viele der Registrierten, vielleicht sogar die meisten, noch nie auf einem Foto gesehen haben, doch da ist es, eingeschweißt in Plastik, unverkennbar das vom alten Michel.

Vielleicht war es gar nicht in erster Linie die Aussicht, wählen zu können. Vielleicht hat man den Andrang an der Registrierungsstelle, das Geschiebe und Geschubse, das tagelange Warten, vor allem deshalb in Kauf genommen, weil eine staatliche Dienstleistung im Kongo etwas so unerhört Seltenes ist - und weil es eine Gelegenheit war, sich in einem fast schon zerbrochenen Staat seiner Identität zu versichern.

Claudine jedenfalls hat es so empfunden. Sie hat noch nie in ihrem Leben ein Ausweispapier besessen, und deshalb musste sie ja auch zum Registrieren fünf Zeugen mitbringen, anders als Michel und seine Frau. Sie hatten noch einen Ausweis aus den achtziger Jahren, der unter dem Despoten Mobutu ausgegeben worden war. Der hatte damals auch schon mal Wahlen abhalten lassen, aber es waren Scheinwahlen, bei denen das Ergebnis vorher feststand.

Diesmal soll es anders werden. "Eine Chance für mein Land", nennt Christian, der Exkrieger, die Wahl, und wenn das stimmt, ist es vor allem eine Chance für den Osten des Landes. Dort verläuft die Grenze, über die vor mehr als zehn Jahren das ganze Elend kam. Nicht, dass es dem Land vorher gut gegangen wäre, aber der Krieg, der aus dem Osten kam, hat alles noch unvergleichlich schlimmer gemacht.

Ruanda mischt sich ein

Erst kamen, aus dem Nachbarland Ruanda, die bewaffneten Killer vom Stamm der Hutu. Die hatten unter den Tutsis des Landes ein furchtbares Blutbad angerichtet und schließlich, nach deren erfolgreicher Gegenwehr, im Ostkongo Zuflucht und eine neue Basis gefunden. Für die neuen Tutsi-Herrscher in Ruanda war das eine Gefahr, und die Invasion ließ denn auch nicht lange auf sich warten. Dabei ging man allerdings über die Zerschlagung der Flüchtlingslager weit hinaus und versetzte dem hohl gewordenen Regime Mobutu den Todesstoß.

Das war eine Befreiung, dafür gab es Beifall von den Befreiten, die noch nicht wussten, dass sich die Befreier als Besetzer erweisen würden, als Plünderer, Diebe und Mörder, die den rohstoffreichen Kongo als leichte Beute betrachteten. So begannen Jahre des Schreckens, mit ausländischen Armeen, ferngesteuerten Rebellenbewegungen, bewaffneten Banden, Stammeskriegen, mit einem besinnungslosen Run auf alles, was Gold war oder metallisch glänzte - und mit vier Millionen Toten.

Ein Ausweis der Hoffnung

Ende 2002 kehrte der Frieden zurück, was man so Frieden nennt im Kongo - Claudine hat er nichts genützt. Es war der 14. April 2003, es war nachts, als ihr Dorf überfallen wurde. Ihre Eltern wurden geschlagen, ihre Geschwister konnten flüchten, aber sie und vier andere Mädchen aus dem Dorf fanden sich, mit Tüchern aneinander gebunden, kurz danach auf einem Gewaltmarsch wieder, quer durch den Busch, tief in den Wald, in der Hand bewaffneter Männer.

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Kongolesen demonstrieren für freie Wahlen in der Hauptstadt Kinshasa

(Foto: Foto: dpa)

Zukunft dank Seife

Claudine ist eine hübsche, gepflegte junge Frau. Ihr Haar ist zu einem Kunstwerk geflochten, sie trägt eine Kette und Ohrringe, ihre Fuß- und Fingernägel sind rot lackiert. Wenigstens nach außen hin soll alles schön sein. Sie lebt im Dickicht eines Armenviertels von Bukavu. Da hat man sie hingebracht, damals, nachdem sie und die anderen vier Mädchen sich befreit hatten und zurückgelaufen waren - fünf Monate danach.

Fünf Monate, in denen sie fremden Männern, ruandischen Hutus, fast jede Nacht zu Willen sein mussten. Claudine wurde untersucht. Der Aids- Test war negativ, das war eine Erleichterung, aber der Schwangerschaftstest war positiv. Es fand sich eine Organisation, die sich um sie kümmerte. Es gibt eine Reihe solcher Organisationen im Kongo, weil es so unendlich viele Frauen gibt, die das Gleiche erlitten haben.

Man brachte ihr Lesen und Schreiben bei, man zeigte ihr, wie man aus Palmöl Seife macht. So wurde Claudine zur Seifenproduzentin, zusammen mit zwei ihrer Leidensgenossinnen, die ebenfalls Mütter kleiner Jungen sind, mit Francine und Machozi. Die beiden sind schon die ganze Zeit während des Gesprächs mit dabei. Sie haben Claudine in ihre Mitte genommen, zum Mutmachen und aus Solidarität.

Später gehen wir alle zur Seifenfabrik. Es ist eine kleine, stickige Bude mit Kübeln und Kanistern, und draußen auf der Straße steht ein Hocker mit der Ware. Zwei Arten sind im Angebot: Ein dickes Stück Seife, tintenblau, und ein kleineres, blauweiß marmoriert. Damit und mit ein paar anderen Hilfsarbeiten kommt Claudine über die Runden, irgendwie, und wer weiß, vielleicht wird ja jetzt sowieso alles besser.

Wunsch nach Sicherheit

Francine sagt, sie werde den Kandidaten wählen, der sich am meisten für Frauenrechte einsetzt. Claudine will einen, der ehrlich ist und sauber und dafür sorgt, dass der Kongo wieder den Kongolesen gehört.

Es soll wieder Sicherheit herrschen im Land, keiner soll mehr nachts in ein Dorf eindringen und Mädchen entführen können. So reden sie und haben Recht und sind doch sehr naiv. Wo, bitteschön, soll er denn herkommen, dieser weiße Ritter in einem Land, in dem die politische Klasse als Motiv nur die Habgier kennt?

Und selbst, wenn es ihn gäbe: Würde er sich im Angesicht all der Probleme in Bukavu nicht mit Grausen wenden? Früher war dies Riviera, die Stadt am Kivusee diente den Belgiern als Sommerfrische. Der Verfall begann unter Mobutu. Dann kamen die Ruander. Zweimal wüteten sie hier, einmal ließen sie wüten. Das Ergebnis ist ein Krüppel von einer Stadt.

Die Straßen sind ein Albtraum, es gibt kaum Strom und viel zu viele Menschen. Es gibt keine Regeln, keine Verwaltung, alles ist käuflich. Wer Geld hat, und das sind die, die an der Ausbeutung der Bodenschätze mitverdienen, investieren in Immobilien. Es wird viel gebaut in Bukavu, und am Ende wird irgendeine der internationalen Hilfsorganisationen den horrenden Mietpreis schon zahlen. Aber es ist keine Stadtentwicklung, es ist Wildwuchs, Anarchie.

Produktion wäre wichtig, aber es wird nur gehandelt, und zwar überwiegend mit Importiertem. Die meisten Firmen haben aufgegeben, zermürbt von Schwierigkeiten, ausgeplündert von Besatzern. Christian Amani Mapendano studiert in dieser Stadt so gut es gerade mal geht, irgendwann wird er sich Regionalplaner nennen können, aber er macht sich keine Illusionen. In einem Land wie dem Kongo, sagt er, studiere man, um anschließend Arbeitsloser zu werden.

Und das nach allem, was er hinter sich hat. Die Guerillabewegung der Mayi-Mayi, der Christian angehörte, war die Antwort der Ostkongolesen auf die Aggression des Nachbarn Ruanda. Der hatte sich freilich getarnt mit Hilfe einer eigens zu dem Zweck gegründeten kongolesischen Rebellenorganisation mit dem großartigen Namen "Rassemblement Congolais pour la Démocratie" (RCD).

Gegen den RCD also ging es, und Christian, der Student, machte mit, weil er sich anders als die nationale Armee, die stiften gegangen war, aufgerufen fühlte "zur Verteidigung der Nation". Vier Jahre im Busch, davon anderthalb als Kommandeur einer Kompanie von 120 Mann - er habe sich, sagt er, nicht vorstellen können, dass man so leiden kann. Er hatte sein Zauberpulver, es gab auch Zauberwasser, aber in seiner Kompanie fielen zehn Mann. Sie hätten sich nicht an die Regeln gehalten, sagt Christian. Die Zauberregeln.

Michels letzter Triumph

Nun wird er, der 30-Jährige, bald Wähler sein, zum ersten Mal, und wählen wird er. Natürlich wird er das. Er nennt es seine "bürgerliche Pflicht", und vielleicht muss einer ja so reden, der vor kurzem noch Premier Lieutenant war.

Christian fühlt sich noch nicht wieder richtig integriert in das zivile Leben. Da gebe es viele, sagt er, die mit dem Feind kollaboriert hätten und einen wie ihn mit Misstrauen beäugten. Christian ist skeptischer als Claudine und ihre Freundinnen. Jetzt vor der Wahl werde viel versprochen, aber könne man denn sicher sein, dass einer sich nachher als Gewählter nicht doch als Diktator und Dieb entpuppen werde? Schließlich habe Mobutu auch mal gut und viel versprechend angefangen.

Es ist ein heißer Tag in Bukavu, das Auto rumpelt von Schlagloch zu Schlagloch und wirbelt roten Staub auf. Wo er sich legt, sieht man Menschen, Rohbauten, Autos, Wahlplakate. Lautsprecherwagen kreuzen durch Stadt und Staub und preisen Kandidaten an.

Wahlkampf-Zirkus

Wahlkampf ist immer auch ein bisschen Zirkus, immer auch eine Gelegenheit, etwas abzustauben, eine Mütze, ein T-Shirt, Geld. Aber was kommt danach? An einem steilen Hang in einem halb verfallenen Lehmhaus warten zwei sehr alte Leute auf den Tod. Michel, der Mann, sagt, er sei bereit zur großen Safari. Aber die Wahl will er noch mitmachen, und Suzana, seine Frau, will das auch. Sie selber haben keine Zukunft mehr, aber ihre Kinder und Enkel sehr wohl, und so gesehen steht auch für die Alten durchaus etwas auf dem Spiel.

Demokratie, sagt Michel, sei die Freiheit zu wählen, und die Freiheit werde er sich nehmen und "le petit" wählen - den Kleinen. So nennt er den derzeit in Kinshasa amtierenden Übergangspräsidenten Joseph Kabila, der mit seinen 35 Jahren im Vergleich zu ihm, dem mehr als doppelt so Alten, ja tatsächlich noch sehr jung ist.

Nicht, dass er nicht auch Bedenken und Befürchtungen hätte, aber er hat auch Hoffnungen, und außerdem: Der alte Mann ist so stolz auf seine Wahlkarte, dieses Stückchen Plastik, das ihm ein Recht gibt, eine Wahl und eine amtlich beglaubigte Identität, und das ist mehr als er je hatte.

Mehr auch als Claudine und Christian je hatten. Alle drei werden sie wählen, von ihren Nachbarn wissen sie, dass auch die wählen werden, und der alte Michel sagt gar mit einem Anflug von Triumph in der Stimme: "Der ganze Kongo wird wählen."

Eine weitere Kongo-Reportage folgt.

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