Vor der Präsidentschaftswahl in Afghanistan:Freiheit mit Häkchen

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Schüsse gehören zum Alltag im Land, von Frieden kann keine Rede sein -nicht zuletzt deshalb fiebern die Menschen dem historischen Urnengang am Samstag entgegen.

Von Peter Münch

Kabul, im Oktober - Es wird ein wichtiger Tag werden, dieser 9. Oktober, ein besonderer Tag für Khaliullah Rahmani. Das muslimische Wochenende liegt dann hinter ihm, der freie Freitag, den er verbringen wird wie immer. "Wir bleiben meistens zu Hause", sagt er, "hier gibt es immer noch nichts, was man tun kann." Klar, es haben wieder ein paar Kinos eröffnet in Kabul. "Aber das ist was für Straßenjungs", meint er.

Auch nach dem Taliban-Regime werden alte Traditionen in Afghanistan hochgehalten: Viele Frauen tragen weiter Burka und bleiben verborgen hinterm Herd. (Foto: Foto: ddp)

Die Parks und Plätze sind verwüstet, und mit Fahrten in die Umgebung der Hauptstadt hat er schlechte Erfahrungen gemacht. Neulich waren sie am Stausee draußen im Westen, da gibt es Wasser, Berge und sogar ein wenig Grün. Doch aus dem Picknick mit der Familie ist nichts geworden. "Wir wollten uns gerade setzen, da kamen ein paar alte Mudschahedin und haben uns verjagt." Aber am Samstag, da wird er die Familie sammeln, seine Frau und die drei erwachsenen Kinder, und sie werden sich aufmachen zu einem Abenteuer - zu einem Ausflug in Afghanistans Zukunft.

Samstag ist Wahltag. Zum ersten Mal in der Geschichte Afghanistans, in der es meistens um die Wahl der Waffen ging, darf das Volk einen Präsidenten küren. Und das Land fiebert diesem Ereignis entgegen. 10,5 Millionen der 27 Millionen Afghanen haben sich für die Wahl registrieren lassen, 42 Prozent davon sind Frauen - und fünf Stimmen wird die Familie Rahmani in die Wahlurnen werfen.

Verborgen am Herd

In einem der verfallenden Betonwohnblöcke Kabuls, mit denen die Sowjets den Afghanen ihre Art von Fortschritt demonstrieren wollten, macht Khaliullah Rahmani es sich im Wohnzimmer auf einem Sitzkissen gemütlich. Er doziert über die große Politik, in die sich plötzlich auch ein kleiner Mann wie er einmischen darf. 46 Jahre ist er alt, Agraringenieur und stolz auf seine Ausbildung.

Er trägt westliche Kleidung, doch nach alter Tradition bleiben Frau und Töchter in der Küche verborgen, wenn der Hausherr Besuch empfängt. Allein der 19-jährige Sohn Nabil darf hören, wie der Vater die neue Welt erklärt: "In 25 Jahren Krieg haben wir eine Kultur des Kämpfens entwickelt", sagt er, und seine Worte hallen wider in diesem kahlen Raum, der abgesehen von den Kissen nur mit einem hölzernen Schrank möbliert ist. "Nun aber machen wir einen Schritt in Richtung Demokratie."

Demokratie? Kaum hat er es gesagt, da kommen ihm schon die Zweifel. Rahmani ist begeistert von der Chance zu wählen, er zeigt einen Enthusiasmus, der überall im Volk zu finden ist. Auf den Märkten diskutieren sie, in den schäbigen Ruinen der Weststadt und in den Teestuben, die wieder gut gefüllt sind, seitdem der Einmarsch westlicher Helfer zumindest Kabul einen künstlichen Boom beschert hat.

Hamid Karsai soll gestürzt werden

Doch Rahmani ist kein Mann, der sich Illusionen erlaubt. Er hat die Zeit der russischen Invasion erlebt, den Bürgerkrieg und die Taliban. Von 1982 bis 1997 hat er unter all den wechselnden Herrschern im Planungsministerium gearbeitet, dann für ausländische Hilfsorganisationen Projekte auf dem Land betreut. Vorsicht ist sein Lebensmotto, sein Motto zum Überleben. "Ich will realistisch sein", sagt er also. "Richtige Demokratie ist das nicht. Aber es ist eine wichtige Übung."

Drei Jahre nach dem Krieg, in dem eine internationale Allianz das ins Mittelalter zurückgefallene Land von Taliban und Terroristen befreite, kann jeder sehen, dass es bei dieser Übung knirscht und kracht. Ballots statt bullets, Stimmzettel statt Kugeln, lautet eine der griffigen Formeln für diese Wahl. Doch natürlich wird immer noch geschossen, vor allem im Süden und Osten des Landes, wo in diesem Jahr schon 700 Menschen bei Anschlägen starben.

Der Wahlkampf der wiedererstarkten Taliban ist ein rücksichtsloser Kampf gegen die Wahl, bei dem allen Wählern, Wahlhelfern und Kandidaten mit dem Tod gedroht worden ist. Und so wie immer in Afghanistan werden auch jetzt wieder hässliche Intrigen gesponnen und zwielichtige Allianzen geschmiedet. Das Ziel ist: Hamid Karsai soll gestürzt werden. Der von der internationalen Gemeinschaft auf den Schild gehobene Übergangspräsident ist der große Wahlfavorit.

Wacklige Umfragen weisen für ihn bis zu 65 Prozent der Stimmen aus, und jeder Afghane weiß, dass Karsai für Cash steht, für die westliche Milliardenhilfe. Im Ausland wird der charismatische Paschtune geschätzt und gefeiert wie ein Mahatma Gandhi vom Hindukusch. Doch zu Hause wird er in diesen Tagen ziemlich gebeutelt und von seinen 17 Gegenkandidaten mit einer langen Mängelliste konfrontiert.

Rahmani, der aufmerksam alle Nachrichten über die Wahl verfolgt, kennt die Vorwürfe, und manchem stimmt er zu. "Karsai ist zu nah an den Amerikanern", sagt er, und vieles sei unerledigt geblieben in den ersten Jahren des Aufbruchs: die Entwaffnung der Milizen, der Kampf gegen die Drogen, die Schaffung von Arbeitsplätzen.

Kandidat Kebabi

Doch ernsthafte Chancen gegen Karsai werden höchstens noch dem eloquenten Bildungsminister Junis Kanunieingeräumt, der die Macht der tadschikischen Nordallianz in Kabul verteidigen soll. Sonderlich ernst allerdings scheint der Amtsinhaber keinen seiner Herausforderer zu nehmen.

Während die anderen Kandidaten Häuserwände, Laternenmasten und Autos mit bunten Wahlplakaten überzogen haben, die in der Schnittmenge alle von Frieden, Bildung und dem Respekt vor dem Koran künden, zeigt der Präsident wenig Präsenz und hält sich in seinem Kabuler Amtssitz verschanzt.

Said Abdul Hadi Dabir jedoch ist das gerade recht. "Karsai mit seinen 20 amerikanischen Bodyguards kann keiner erreichen", frohlockt der Geschäftsmann. "Mit mir aber kann jeder reden, wenn ich übers Land fahre." Auf dem Wahlzettel, der für die 80 Prozent Analphabeten in der afghanischen Bevölkerung mit Bildern der Kandidaten bestückt wurde, steht der vierschrötige Dabir an vorletzter Stelle. Das aber ficht ihn wenig an.

Kandidat vom Fleischgrill

Er selbst sieht sich ganz weit vorn im Rennen, und er weiß sich zu inszenieren als präsumtiver Präsident: Da ist der Jeep mit den verdunkelten Scheiben und der dicke Goldring, der für Wohlstand steht, und natürlich das allzeit breite Grinsen, das Siegeszuversicht verströmen soll.

Mit der Formulierung seines politischen Programms ist er noch nicht weit fortgeschritten, doch damit befindet er sich in bester Gesellschaft. Die eine Hälfte der Kandidaten, das sind die Unbekannten, kann nicht sagen, was sie will, weil sie es selbst nicht weiß und über keinerlei politische Erfahrung verfügt. Und die andere Hälfte, die Altbekannten wie zum Beispiel der furchtbare Usbeken-General Raschid Dostum, will es nicht sagen, weil sie so viel einschlägige Erfahrung besitzt, dass sie tunlichst nach einem neuen Image sucht.

Dabir gehört zur ersten Kategorie, auch wenn er selbst gern glauben macht, dass ihn "jeder kennt im ganzen Land". Wer ihn kennt, erinnert sich an ihn zumeist unter seinem Spitznamen "Kebabi", weil er früher sein Geld am Fleischgrill verdiente.

Draußen Wäsche, drinnen Wahlwerbung

Ein bunter Kreis von Kandidaten also ist da zusammengekommen, und neben dem Favoriten und dem Feld der Verfolger gibt es einen ganz besonderen Außenseiter: Es ist Massuda Jalal, auf Platz 16 der Kandidatenliste - und die einzige Frau im Rennen. In einem schäbigen Mietshaus am Ufer des Kabul Rivers hat sie ihr Wohn- und Wahlquartier aufgeschlagen. Draußen hängt die Wäsche, drinnen stapelt sich die Wahlwerbung.

Und mitten im Durcheinander, das all die männlichen Helfer um sie herum veranstalten, steht mit Kopftuch und dezent geschminkt die 41-jährige Kinderärztin: das Handy am Ohr, eine Gruppe Besucher vor der Nase und trotzdem der ruhende Pol.

Sie hat ein rundes, faltenfreies Gesicht und ist von stämmiger Statur. In jeder Geste und in jedem Satz ist sie bereit zu zeigen, dass sie so schnell nichts umwirft. "Ich bin die erste Frau in 5000 Jahren afghanischer Geschichte", sagt sie, "und das Land ist absolut bereit für eine Frau." Das ist ein kühner Satz in einer Männerwelt, in der auch heute noch die meisten Frauen unter der Burka verharren.

Doch nichts scheint ihr ferner zu liegen als ein Aufruf zum Geschlechterkampf. Sie will nicht nur die Frauen gewinnen, sondern setzt auf die Männer, die das Sagen haben. "Die haben genug von Blutvergießen und von Diktatoren", glaubt sie. "Sie wollen eine Ärztin, die das Gefühl einer Mutter hat. Sie wollen eine Präsidentin, die sie liebt."

Ein teures Stück Demokratie

Für ein paar andere politisch engagierte Frauen in Kabul ist das ein bisschen viel Gefühl. Sie werfen Jalal, die sich jeder Allianz verweigert, eine One-Woman-Show zum eigenen Frommen und ohne wirklichen Nutzen vor.

Doch für keinen im Land sind wohl so viele Wahlplakate geklebt worden,

wie ihre Helfer es für sie getan haben. Mit gütigem Lächeln oder in ernster Gebetspose präsentiert sie sich als Mutter der Nation. Und auf ein Großväterchen wie den weißbärtigen Hadschi Mohammed Cher scheint das durchaus Wirkung zu haben.

Der Alte sitzt in Jalals Warteraum und stellt sich vor als "Vertreter von sieben Distrikten aus der Schomali-Ebene" nördlich von Kabul. Seine Leute haben ihn nach Kabul entsandt mit dem Auftrag, den richtigen Kandidaten für das Präsidentenamt zu finden. So zieht er von einem zum anderen und fragt, was er ihm und den Seinen zu bieten habe.

Blockabstimmungen im Auftrag der Warlords

Am Freitag dann, nach der Rückkehr, trifft sich die Schura, der Rat der Dorfältesten, vor dem Gebet in der Moschee, und Hadschi Mohammed Cher wird vom Ergebnis seiner Reise berichten. "Wir geben nur Ratschläge, wen sie wählen sollen", sagt er mit aller Vorsicht. "Aber sie werden das befolgen." So funktioniert die Demokratie auf Afghanisch.

Für westliche Wahlbeobachter, die von der Europäischen Union und der OSZE nach Kabul geschickt wurden, ist das kaum akzeptabel. Sie klagen über die "Blockabstimmungen", die oft auf Druck von örtlichen Warlords zustande kämen, über Einschüchterungen der Wähler und über Stimmenkäufe. Und sie klagen über die eigenen beschränkten Möglichkeiten, weil der Westen weit weniger Beobachter geschickt hat als versprochen.

"Wir sind die saure Sahne auf einer sauren Milch", urteilt ein frustrierter Brite, der seinen Namen nicht genannt wissen will. Diese Wahl habe 200 Millionen Dollar gekostet, also 20 Dollar pro registriertem Wähler. Das sei schon "ein ziemlich teures Stück Demokratie".

Zeichen des Aufbruchs

Die Hoffnung auf Demokratie aber ist bei allen Mängeln und Kosten für Khaliullah Rahmani und die meisten seiner Landsleute ein Zeichen des Aufbruchs. Und das brauchen sie so dringend wie das tägliche Brot auf dem Tisch. Die reine westliche Lehre interessiert sie wenig. "Wir müssen unseren eigenen Weg zur Demokratie finden", meint Rahmani. Und er glaubt fest daran, dass seine Kinder eines Tages "die Chance haben werden, in einer freien Gesellschaft zu leben".

Seinen Beitrag will er am Samstag leisten. Er geht wählen, und er wählt Karsai, auch wenn er als Tadschike Angst davor hat, "dass Karsai seine Paschtunen bevorzugt". Er wählt ihn, "weil es keine Alternative gibt". Und er ist sicher, dass die alten Kräfte besiegt werden. "Die Kommandeure verlieren ihre Macht und die Mudschahedin müssen akzeptieren, dass sie nicht mehr kämpfen können", sagt er. All die Jahre hat er diese Hoffnung nicht aufgegeben - unter den Kommunisten, im Bürgerkrieg, unter den Taliban. "Deshalb bin ich hier geblieben", sagt er, "und ich glaube, das war gut so."

© SZ vom 7.10.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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