Vor der Münchner Sicherheitskonferenz:Getrieben von der Allmacht des Netzes

Das Militär taugt immer weniger zur Verteidigung von Staaten. Neu entstehende Kräfte lassen sich davon nicht abwehren. Sie sind gestaltlos, tauchen plötzlich auf, fordern Gerechtigkeit und Beteiligung. Selbst in Deutschland werden die klassischen Hierarchien herausgefordert. Arroganz und Intransparenz haben nur noch wenig Lebenszeit - und Sicherheit wird auch eine Frage der Breitbandgeschwindigkeit.

Stefan Kornelius

Wer heute im Westen von Sicherheit redet, der muss mit einem Widerspruch fertig werden: Der Krieg geht, aber die Unsicherheit bleibt. Die klassische militärische Auseinandersetzung ist immer weniger eine Option für die hoch entwickelten Gesellschaften. Der Krieg verabschiedet sich aus den Köpfen der Menschen, besonders in Europa, aber auch in den USA, wo die inneren Probleme immer weniger Platz lassen für die Konflikte der Welt.

Sicherheit gibt es deshalb allerdings noch lange nicht. Im Gegenteil, die Umbrüche in der Welt lassen die Angst vor neuen Bedrohungen wachsen: vor einem Kollaps der Märkte mit all seinen dramatischen Folgen für Staaten und seine Bürger; vor sozialen Spannungen, die durch die Ungleichverteilung von Wohlstand entstehen; vor der Radikalisierung von Gesellschaften, die ihr Heil im Fanatismus der Religionen suchen; vor einer Eskalation im Cyberspace, in dem sich ein gewaltiges Potential an Verwundbarkeit für Staaten, aber auch für jeden Einzelnen verbirgt. Da sind also neue Kräfte am Werk, die sich nicht einfügen lassen in die alten Muster der Sicherheitspolitik.

Diese Kräfte verändern das Macht-Monopol des Staates - ob der nun im demokratischen oder im autoritären Gewand daherkommt. Stärker gefährdet sind freilich die autoritären Regime. Das Militär taugt immer weniger zur Verteidigung der Autorität und zur Durchsetzung von Interessen - Irak hat gerade den Beweis dafür geliefert. Die neuen Kräfte lassen sich militärisch nicht wirklich abwehren. Sie sind gestaltlos, funktionieren wie ein Flashmob - plötzlich sind sie da, und ebenso plötzlich wieder verschwunden. Sie fordern Gerechtigkeit, Beteiligung, Transparenz, und sie sind dabei so unfassbar wie eine Wolke.

Die Welt wird überrollt von einem neuen Bedürfnis nach Teilhabe, getrieben von der Allmacht des Netzes und der durchdringenden Kraft einer weltumspannenden Kommunikation, die keine Zeitzonen, keine Grenzen, keine Hindernisse mehr kennt. Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung hat entweder Zugang zu Mobiltelefonen oder dem Internet. Für mindestens jeden vierten Menschen auf der Erde gibt es einen Fernseher, schätzungsweise 1,3 Milliarden Haushalte verfügen über ein Gerät. Seitdem al-Dschasira über die Missstände in den arabischen Ländern berichtet, seitdem ist auch in der Region der Boden für die neuen Kräfte bestellt. Der Staat hat seine Allmacht verloren.

Die Macht der Daten und Bilder lässt die Großen stürzen und die Ohnmächtigen hoffen. Sie zwingt zu Offenheit und Rechtfertigung. Und sie setzt Standards für die bestmögliche Regierungsform und für einen dienenden Staat. Zu kontrollieren ist sie jedenfalls nicht mehr. Das sind die Gesetze im Zeitalter der zweiten Aufklärung.

Dieses Zeitalter ist nicht nur in der arabischen Welt angebrochen, auch wenn dort die Revolution in ihrer Urgewalt zu beobachten ist. Klassische Hierarchien werden auch in hoch entwickelten Demokratien wie etwa Deutschland herausgefordert, wo die Piratenpartei die Konventionen des politischen Systems sprengt. In der Europäischen Union hat sich durch die Schuldenkrise ein gefährlicher Zorn vor allem auf das Brüsseler System angestaut, das intransparent daherkommt oder zu komplex funktioniert. Die ökonomische Krise hat die Autorität des Staates im Westen insgesamt untergraben, die Gestaltungsmacht der Politik wird durch die Akteure auf dem Finanzmarkt herausgefordert. Und die Occupy-Bewegung fragt auf der anderen Seite des Spektrums, ob diese Politik überhaupt noch handeln möchte.

Sicherheit, eine Frage der Breitbandgeschwindigkeit?

In halbdemokratischen Systemen wie in Russland sucht sich der Widerstand seinen Platz ebenfalls mit Hilfe des Netzes und der anonymen Masse, die wie ein Fischschwarm nicht angreifbar, aber stets präsent und sichtbar ist. Der tumbe Machttransfer von Medwedjew auf Putin provozierte eine Empörung, die der neue, alte Präsident - sollte er die Macht wie geplant wieder ergreifen - nicht ignorieren kann. Arroganz und Intransparenz haben nur noch wenig Lebensdauer.

Und selbst im autoritären chinesischen Staat verbringt die Parteiführung viel Zeit damit, die Gesetze der zweiten Aufklärung auf ihr System zu übertragen. Transparenz und Beteiligung in einem autoritären Staat? Kann das gehen? Hier liegt er, der große tektonische Bruch, an dem das nächste ideologische Beben abzusehen ist. Wer also ist besser vorbereitet für diese Erschütterung der Systeme? Wer kann besser umgehen mit den Gesetzen der zweiten Aufklärung?

Sicherheit, so viel ist jedenfalls heute klar, könnte am Ende auch eine Frage der Breitbandgeschwindigkeit sein.

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