Vor dem EU-Gipfel:Die Willigen und die Unwilligen in der Flüchtlingskrise

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Er schottet sich ab, sie will Flüchtlinge solidarisch umverteilen. Der ungarische Ministerpräsident Orbán ist einer der erbittertsten Gegner Angela Merkels, auch an diesem Donnerstag in Brüssel. (Foto: REUTERS)

Angela Merkel sucht auf dem EU-Gipfel in Brüssel eine Lösung für die Flüchtlingskrise. Doch der Widerstand ist groß - bei alten Gegnern und sogar bei alten Verbündeten. Ein Überblick.

Von Benedikt Peters und Barbara Galaktionow

Die Kanzlerin hat noch versucht, die Erwartungen zu dämpfen: Auf dem Treffen der Staats- und Regierungschefs werde nicht über die Verteilung von Flüchtlingen in Europa entschieden, es gehe erst einmal nur um die Sicherung der EU-Außengrenze. Doch es ändert nichts: Der Gipfel in Brüssel, der an diesem Donnerstag beginnt, ist einer der wichtigsten für Angela Merkel. Für ihre Kanzlerschaft und dafür, was von ihr bleiben wird. Merkel will keine Abschottung Europas. Sie will, dass Flüchtlinge in Europa solidarisch umverteilt werden. Die Sicherung der EU-Außengrenze ist dafür der erste Schritt. Doch er ist für Merkel nur dann sinnvoll, wenn danach der zweite folgt: Dass sich die Mitgliedsstaaten bereit erklären, Hunderttausende Flüchtlinge aus türkischen Lagern aufzunehmen. Doch das wird nicht einfach: Manche Staaten stellen sich offen gegen die Vorschläge Merkels. Der klassische Verbündete Frankreich schwankt. Die wichtigsten Positionen im Überblick.

Deutschland

Für die Bundesregierung ist klar: So kann es nicht weitergehen. 1,1 Millionen Flüchtlinge sind seit 2015 nach Deutschland gekommen. Von Monat zu Monat wächst der Druck auf die Kanzlerin, den Zuzug zu begrenzen - sowohl daheim als auch bei den europäischen Partnern. Flüchtlingsorganisationen kritisieren zudem, dass die EU-Mitgliedsländer nach wie vor zulassen, dass Tausende Menschen auf der gefährlichen Überfahrt über das Meer und auf der Balkanroute ihr Leben riskieren. In Brüssel wirbt Merkel für einen dauerhaften Umverteilungsmechanismus, der diese Probleme wenn nicht beseitigen, so doch stark abmildern könnte. Der Plan, den Berlin gemeinsam mit Ankara vorangetrieben hat, sieht einerseits vor, dass die Türkei ihre Grenzen besser kontrolliert und so verhindert, dass sich Flüchtlinge auf den Weg über das Meer Richtung Griechenland begeben.

Die EU soll der Türkei im Gegenzug jährliche Flüchtlingskontingente abnehmen. Die Menschen sollen solidarisch auf die einzelnen Mitgliedsstaaten verteilt werden. Offiziell gibt es dazu noch keine Zahlen, die Rede ist aber von 250 000 bis 300 000 Flüchtlingen jährlich. Ob das funktionieren könnte, ist allerdings fraglich. Im Sommer haben die Mitgliedsländer schon einmal beschlossen, 160 000 Flüchtlinge innerhalb der EU umzuverteilen. Das bisherige Ergebnis ist desaströs. Gerade einmal 497 Flüchtlinge sind nach Angaben der EU-Kommission aus Italien und Griechenland in andere Staaten gebracht worden. Auch darum soll es beim Gipfel in Brüssel gehen. Zudem sperren sich viele Mitgliedsländer gegen die Forderung, weitere Flüchtlinge aufzunehmen. Um das Scheitern der Kontingentlösung zu verhindern, versucht die Bundesregierung derzeit, eine "Koalition der Willigen" mit einigen Ländern zu schmieden. Doch selbst unter diesen bröckelt die Zustimmung.

Frankreich

Das beste Beispiel dafür ist Frankreich. Traditionell stimmen Berlin und Paris ihre Positionen in der EU eng ab. Offiziell gehört Frankreich zu der "Koalition der Willigen" und signalisiert damit die Bereitschaft, bei der Umverteilung von Flüchtlingen mitzumachen. Spätestens seit dem Wochenende aber ist zweifelhaft, wie weit diese Bereitschaft wirklich geht. Premierminister Manuel Valls hatte auf der Münchner Sicherheitskonferenz gesagt, sein Land könne nicht mehr als die vereinbarten Flüchtlingszahlen verkraften. Bisher hatte Paris zwar zugesichert, im Rahmen der einmaligen Umverteilung der 160 000 Flüchtlinge 30 000 von ihnen aufzunehmen. Für die von Deutschland angestrebte dauerhafte Kontingentlösung wäre das viel zu wenig. Erfahrungsgemäß braucht Merkel außerdem Frankreich, wenn sie in EU-Gremien ihre Position durchsetzen will. Kehrt Paris Berlin wirklich den Rücken, dürfte das nahezu unmöglich werden.

Griechenland

Die Griechen unterstützen die von Deutschland propagierte, dauerhafte Kontingentlösung. Sie würden davon profitieren, wenn Flüchtlinge in der Türkei blieben oder dorthin zurückgebracht würden, statt nach Griechenland weiterzureisen. Gleichzeitig aber sind die Griechen in der Flüchtlingspolitik die Buhmänner in der EU. Viele Mitgliedsstaaten werfen ihnen vor, die EU-Außengrenze nicht vernünftig zu sichern, Flüchtlinge schlecht zu versorgen und sie nicht ordentlich zu registrieren. Fünf Registrierzentren sollten eigentlich Ende 2015 fertiggestellt sein. Lange war aber nur ein sogenannter "Hot-Spot" in Betrieb, und das mehr schlecht als recht. Inzwischen sind es vier, doch vielen Politikern kommt das zu spät. Als Konsequenz fordern EU-Politiker, darunter auch deutsche, den Ausschluss Griechenlands aus dem Schengen-Raum. Die umstrittene Rolle Athens macht die Verhandlungen komplizierter.

Weitere mögliche Unterstützer Merkels

Zu der Koalition der Willigen zählen neben diesen Ländern Österreich, Belgien, die Niederlande, Schweden, Finnland, Luxemburg und Portugal. Nach einem dpa-Bericht soll als einziges ostmitteleuropäisches Land auch Slowenien dabei sein. Vertreter dieser Länder wollten sich eigentlich vor Beginn des EU-Gipfels am Donnerstag treffen, um mit dem türkischen Premierminister Ahmet Davutoğlu über die Kontingentlösung zu beraten. Nach dem Terroranschlag in Ankara wurde das Treffen nun allerdings abgesagt. Ungeachtet dessen haben diese Staaten Entgegenkommen signalisiert. Ob sie Merkels Kurs aber wirklich mittragen, ist noch nicht klar.

Schwierig werden könnte zum Beispiel die Frage, welches Land letztlich wie viele Flüchtlinge aufnehmen soll. Schweden etwa, das bisher vergleichsweise viele Flüchtlinge aufgenommen hat, hat inzwischen Grenzkontrollen eingeführt und signalisiert, das nun andere Länder am Zug seien. Ähnliches gilt für Österreich, das im Januar die Einführung einer Obergrenze für Flüchtlinge ankündigte. Weitere Länder, wie etwa Frankreich, deuten an, dass sie zwar bei einer Kontingentlösung mitmachen würden - zuerst müsse aber erreicht werden, dass weniger Menschen in die EU einreisten, also die Außengrenzen entsprechend gesichert seien. Solche Stimmen gibt es auch in Deutschland. Eine Reduzierung der Gesamtzahl der Flüchtlinge sei wichtiger als die Einführung einer festen Quote, sagte etwa der CDU-Europapolitiker Elmar Brok.

Einige ostmitteleuropäische Staaten weisen den Vorschlag einer Kontingentlösung zurück. Am deutlichsten tun dies Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn. Die vier Länder der sogenannten Visegrád-Gruppe setzen eher auf Abschottung als auf Umverteilung. Man werde sich den EU-Plänen widersetzen, kündigte etwa der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán an. Sein slowakischer Kollege Robert Fico sagte, er sei bezüglich der Lösung mit der Türkei "pessismistisch". Als eigens ausgerufenen Plan B forcieren die vier Länder eine Zusammenarbeit mit Griechenlands Nachbarländern Mazedonien und Bulgarien.

Diese sollen ihre Grenzen schließen, damit Flüchtlinge nicht weiterkommen. Diese müssten dann in Griechenland zurückbleiben oder aber versuchen, über Albanien weiter nach Norden zu gelangen. Doch das bergige Land gilt als unwegsam. Falls Plan B Wirklichkeit wird, droht Griechenland und den dortigen Flüchtlingen daher mindestens Chaos - möglicherweise auch eine humanitäre Katastrophe. Auch deswegen kommt es vor dem EU-Gipfel vermehrt zu Spannungen zwischen den Visegrád-Ländern und den Unterstützern der Kontingentlösung mit der Türkei. Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn etwa warnte sie davor, einen "Verein der Abtrünnigen" zu bilden.

Baltische Staaten

Auch in den baltischen Staaten wehrt man sich gegen eine langfristige EU-Flüchtlingsquote. Schon bei der im Herbst beschlossenen Verteilung von 160 000 Flüchtlingen erklärten sich Estland und Lettland nur widerstrebend und nach längeren Diskussionen bereit, in den kommenden zwei Jahren jeweils wenige Hundert Flüchtlinge aufzunehmen. In Lettland erreichten die ersten sechs Flüchtlinge das Land der Baltic Times zufolge Anfang Februar.

Anders in Litauen: Dort war die Regierung schnell bereit, mehr Flüchtlinge aufzunehmen, wenn auch die Zahl von etwas mehr als 1000 Menschen im Vergleich zu der Zahl der kommenden Flüchtlinge nicht eben hoch erscheint. Doch auch Litauens Regierungschefin Dalia Grybauskaitė will sich für die Zukunft keine verbindliche Flüchtlingsquote vorschreiben lassen. Wie ihre Kollegen in den anderen beiden baltischen Staaten äußerte sie die Ansicht, zunächst einmal müssten die EU-Außengrenzen besser geschützt werden.

Großbritannien

Die Linie der britischen Regierung ist, nur Flüchtlinge aus Camps in Syrien oder dessen Nachbarstaaten aufzunehmen. Cameron zufolge soll dadurch verhindert werden, dass Flüchtlinge sich auf eigene Faust auf die "möglicherweise tödliche Reise nach Europa" begeben. Seit dem Ausbruch des Syrienkonflikts 2011 hat Großbritannien 5000 Syrern Asyl gewährt. Weitere 1000 Flüchtlinge aus dem Bürgerkriegsland erhalten "humanitären Schutz" - dieser gilt für Flüchtlinge, die in ihrem Heimatland ernsthaft bedroht sind, aber keinen individuellen Asylgrund vorweisen können. An der im Sommer vereinbarten EU-Quotenregelung zur Verteilung von 160 000 Flüchtlingen beteiligt sich London allerdings nicht.

Das Gleiche gilt für Dänemark. Von diesen beiden Ländern ist daher auch bei den kommenden Verhandlungen zu einer dauerhaften Kontingentlösung aus Sicht von Kanzerlin Merkel keine Hilfe zu erwarten.

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