Vor Brexit-Verhandlungen:Theresa May und ihr Horror-Kabinett

Vor Brexit-Verhandlungen: Theresa Mays Kabinett im Juli 2017 - hervorgehoben v.l.n.r. - Michael Fallon, Damian Green, Theresa May, Boris Johnson und Priti Patel.

Theresa Mays Kabinett im Juli 2017 - hervorgehoben v.l.n.r. - Michael Fallon, Damian Green, Theresa May, Boris Johnson und Priti Patel.

(Foto: Imago (M))
  • Nach dem Rücktritt von Verteidigungsminister Fallon wegen des Vorwurfs sexueller Belästigung hat nun auch Entwicklungshilfeministerin Patel die britische Regierung verlassen. Sie stolperte über nicht abgesprochene Gespräche in Israel.
  • Die ohnehin schon geschwächte Autorität von Premierministerin May wird noch dazu von Außenminister Johnson unterminiert.
  • Auch bei den Brexit-Verhandlungen läuft London die Zeit davon, und es kursieren ständige Spekulationen über ein Ende der Regierung May.

Von Matthias Kolb

Am Ende eines weiteren desaströsen Tages zeigt sich Theresa May doch noch in der Öffentlichkeit. Die Premierministerin besucht ein Bankett zu Ehren des 25-jährigen Dienstjubiläums von Paul Dacre als Chef der einflussreichen Boulevardzeitung Daily Mail. Kurz zuvor war passiert, womit in London den ganzen Mittwoch über gerechnet wurde: Die Entwicklungshilfeministerin Priti Patel hatte ihren Rücktritt eingereicht. Sie ist das zweite Mitglied aus Mays Kabinett innerhalb von sieben Tagen, das sich zurückzieht.

Dass Verteidigungsminister Michael Fallon wegen des Vorwurfs von sexueller Belästigung seinen Posten räumte, sorgte schon für erhebliche Unruhe. Und die schlechten Nachrichten für May reißen nicht ab: Damian Green, ihr wohl wichtigster Mitarbeiter im Range eines Kanzleramtsministers, muss erklären, wieso auf seinem Computer während einer Ermittlung 2008 pornografisches Material gefunden wurde. Seit Tagen fordert die Opposition außerdem den Rücktritt von Außenminister Boris Johnson, der mit einem typischen Plappermaul-Auftritt die Lage für eine in Teheran inhaftierte iranischstämmige Britin verschlechtert haben soll.

Für Theresa May ist der Fall von Priti Patel besonders heikel, da er ihre äußerst schwache Position in der Konservativen Partei offenlegt. Patel, bis Mittwoch Ministerin für internationale Entwicklung, hatte im August Urlaub in Israel gemacht und an zwei Tagen ein Dutzend Gespräche geführt - unter anderem mit hochrangigen Politikern wie Premierminister Benjamin Netanjahu und Gilad Erdan, dem Minister für öffentliche Sicherheit. Weder Außenminister Johnson noch May noch die britische Botschaft in Israel waren informiert.

Dies widerspricht nicht nur allen professionellen Standards (die Regierung soll mit einer Stimme sprechen und die Premierministerin über Kontakte informiert sein), sondern lässt vermuten, dass zumindest einige Mitglieder in Mays Kabinett keine Konsequenzen bei solchen Alleingängen fürchten. Patel, die als Tochter indischstämmiger Eltern aus Uganda 1972 in London geboren wurde, gilt als "Israel-Freundin" und besuchte im Sommer auch die Golan-Höhen, die Israel von Syrien annektiert hat. Dies wird von Großbritannien nicht akzeptiert - was Priti Patel aber nicht hinderte, Israels Militär Finanzhilfen für den Golan zu versprechen. Dass May darüber erst durch Recherchen der BBC informiert wurde, rundet das Bild eines chaotischen Horror-Kabinetts ab.

Dass Patel eine Dienstreise in Afrika abbrach und nach London zurückbeordert wurde (die Polit-Presse verfolgte auf der Website Flightradar24, wann ihr Flugzeug aus Nairobi landen würde), sollte signalisieren, dass May durchgreifen kann. Für deutsche Leser sind die genauen Umstände (Buzzfeed hat eine ausführliche Chronik) und Spekulationen über Patels Absichten wohl eher nebensächlich, aber drei Faktoren zeigen, wie desaströs nun die Lage für Theresa May ist:

Erstens: Patels Rücktritt gefährdet die fragile Machtbalance im Kabinett

Weil sie sich mit der für Juni ausgerufenen Neuwahl verzockt hat, befindet sich May in einer misslichen Lage. Sie führt eine Minderheitsregierung an und gilt als "dead woman walking", also als Premierministerin auf Abruf. Ihr Kabinett ist fein austariert zwischen Befürwortern eines harten Brexit (als solche galt Priti Patel) und jenen, die eher pragmatisch sind und nach dem EU-Austritt zumindest lockere Beziehungen mit Brüssel haben wollen. Jacob Rees-Mogg, momentan der Ober-Brexiteer (hier ein SZ-Porträt) beharrt bereits darauf, dass Patel durch eine Hardlinerin ersetzt werde. Ein echter Befreiungsschlag, also ein Kabinett aus Ministern ihres Vertrauens, dürfte für May unmöglich sein.

Zweitens: Der jüngste Skandal um Boris Johnson ist nicht ausgestanden

Wer zuletzt "Minister düpiert Theresa May" hörte, der dachte stets an Boris Johnson. Erst Mitte September, direkt vor dem Parteitag, hatte er ein Brexit-Papier veröffentlicht, das die Position der Premierministerin untergrub. Mays bereits angekündigte Grundsatzrede in Florenz wurde vor allem als "Wie reagiert sie auf Boris?" interpretiert.

Johnson ist ein Meister darin, Mays Autorität zu untergraben, doch nun steht der ehemalige Londoner Bürgermeister seit Tagen in der Kritik: Er hat mit einer unbedachten Aussage vor einem Parlamentsausschuss die Lage für eine iranischstämmige Britin verschlechtert. Nazanin Zaghari-Ratcliffe sitzt seit 2016 in Iran im Gefängnis, weil ihr der Umsturz des Regimes vorgeworfen wird. Johnson sagte am Freitag recht salopp, dass die Frau doch nur Journalisten ausgebildet habe. Dies widerspricht der Argumentation der Verteidigung - und wurde sofort in Teheran als Beweismittel verwendet. Die Gefängnisstrafe könnte sich verlängern.

Allgemein wird Johnsons Aussage nicht als böswillig angesehen - er habe sich lediglich schlecht vorbereitet und sei sich der Auswirkungen seiner Worte nicht bewusst, hieß es. Erst nach fünf Tagen sagte Johnson, er hätte sich "klarer ausdrücken" sollen und versprach, bei einem Besuch in Teheran die Sache anzusprechen. Für die Labour-Opposition ist dieser Fall natürlich bestens geeignet, um Therea May vor sich herzutreiben und mit Boris Johnson einen potenziellen Nachfolger zu schwächen. Emily Thornberry, die Schatten-Außenministerin, fragt öffentlich: "Was muss denn noch passieren, damit die Premierministerin sagt 'Genug ist genug'?"

Drittens: Bei Brexit-Verhandlungen läuft die Zeit davon

All diese Skandale, Intrigen, Vorwürfe und Machtspiele in London bieten die Begleitmusik für die sechste Runde der Brexit-Verhandlungen zwischen der EU und der May-Regierung, die vom heutigen Donnerstag bis zum Samstag dauern wird. EU-Chefunterhändler Michel Barnier hat bereits davor gewarnt, sich allzu große Hoffnungen auf Fortschritte zu machen.

Laut Financial Times hat Brüssel der britischen Regierung eine Deadline von zwei bis drei Wochen gegeben, um endlich zu erklären, wie viele Milliarden an Kompensation London für den Austritt bezahlen wird. Ansonsten sei es nahezu unmöglich, auf dem EU-Gipfel in Brüssel die Verhandlungen über ein Handelsabkommen zu beginnen. Auch hier wird Mays Spielraum immer kleiner: Am 29. März 2019 wird der Austritt des Vereinigten Königreichs vollzogen - ob es einen Deal gibt oder nicht.

Britische Medien wie die Times schreiben bereits, dass sich die EU-Kommission darauf vorbereite, dass die Regierung von Theresa May noch in diesem Jahr auseinanderbreche. Und einzelne Abgeordnete drohen bereits damit, dass "an Weihnachten alles vorbei sein" könnte.

"Es wirkt, als hätte sie die Kontrolle verloren", sagt ein hochrangiger Tory-Politiker dem Independent. In den kommenden sechs Wochen gehe es um "make or break", also um das politische Überleben von Theresa May.

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