Volksaufstände:Wenn soziale Schieflagen zum Aufruhr führen

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Berühmte Umwälzungen: Die Französische Revolution von 1789, die Wiener Teuerungsrevolte von 1911, die Nelkenrevolution von 1974 und der Arabische Frühling von 2011 (von oben links im Uhrzeigersinn). In der Mitte ein Foto von den aktuellen Unruhen in Iran. (Foto: Getty/Wikimedia/dpa)

In der Weltgeschichte haben miese wirtschaftliche Entwicklungen zu Aufruhr wie in Iran geführt - teils sogar zu Revolutionen. Doch Armut und hohe Preise machen noch keinen Aufstand, wenn ein wichtiger Faktor fehlt.

Von Oliver Das Gupta

Derzeit gleicht Iran einer Black Box. Was sich auf den Straßen der Städte genau abspielt, wer dort und wie viele Menschen dort demonstrieren - all das ist unklar, die Lage ist diffus.

Die Iraner protestieren aus den unterschiedlichsten Gründen: Progressive wenden sich gegen das repressive Mullah-Regime, Arme begehren wegen Preissteigerungen auf, andere träumen sogar von der Rückkehr zur Monarchie.

In einem Punkt stimmen allerdings alle Beobachter überein: Die prekäre Wirtschaftslage des Landes ist ein Treibmittel für Unmut bei allen.

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Ginge es allein um die Wirtschaft, hätten die Iraner schon deutlich früher auf die Straßen gehen müssen, sagt Amir Alizadeh von der Deutsch-Iranischen Industrie- und Handelskammer in Teheran. Er sieht ein diffuses Bild.

Interview von Barbara Galaktionow

In der Weltgeschichte haben sozioökonomische Schieflagen Unruhen wie in Iran begünstigt - und manchmal sogar größere Umwälzungen. Vier Beispiele:

Französische Revolution 1789

Die neben der russischen Oktoberrevolution wohl wirkmächtigste Volkserhebung in der Menschheitsgeschichte wird mit der Parole "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" assoziiert. Doch der Ausgangspunkt war damals nicht die Sehnsucht nach Demokratie und Menschenrechten, sondern der Hunger. Durch eine Missernte im Vorjahr verschlechterte sich die Versorgungslage, die Getreidepreise schnellten hoch.

Anders als die privilegierten Schichten litten Bauern und normale Bürger immens unter Abgaben und der immensen Teuerung, und sie bildeten die übergroße Mehrheit der französischen Bevölkerung. Der aufgestaute Unmut der einfachen Leute entlud sich entsprechend, zunächst in der Versammlung der Generalstände - dort veränderte man erfolgreich das System - dann im Sturm auf die Bastille. Die Hungerrevolte hat aufklärerischen Gedanken als Unterbau gedient.

Wohl mitentscheidend für das Gelingen der Revolution: die Ernte 1789 fiel gut aus, die Versorgungslage entspannte sich trotz der Umwälzungen.

Wiener Teuerungsunruhen 1911

Bedingt durch mehrere Missernten stiegen die Preise in der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie 1910 immens, im Folgejahr verschärft sich die Lage noch. Betroffen waren vor allem Arbeiter in Wien.

Der Mehlpreis hatte sich in der kaiserlichen Hauptstadt innerhalb kurzer Zeit fast verdoppelt, die Mieten verteuerten sich, Fleisch konnten sich nur noch die Begüterten leisten. Am 17. September 1911 kam es zu Massendemonstrationen, Zehntausende Menschen protestierten.

Die Lage eskalierte: Soldaten töteten drei Arbeiter, mehr als 90 Demonstranten wurden verletzt, 200 festgenommen - manche schmorten viele Jahre im Kerker. Wenig später war der Aufruhr Thema im Parlament, wo es zu einer Schießerei kam.

Nelkenrevolution in Portugal 1974

Das Land am westlichen Ende Europas hatte sich seit den 1920er Jahren zu einer Diktatur entwickelt: faschistisch, katholisch - und verarmt. Die nationalistischen Machthaber gewährten der Bevölkerung bewusst kaum Zugang zu Bildung, viele Menschen konnten nicht einmal lesen und schreiben, es herrschte totale Pressezensur.

Die prekären Verhältnisse verschlimmerten sich durch eine Abschottungspolitik gegenüber dem Westen: Zwar war die Staatsführung strikt antikommunistisch und Portugal Nato-Mitglied, aber westliche Einflüsse und Tourismus wollten die starken Männer in Lissabon lieber nicht.

In den 60er Jahren verschärfte sich die Lage: Kriege in den Kolonien verschlangen mitunter die Hälfte des Staatshaushalts. 1974 rebellierte ein linkes Netzwerk im Militär, das - unter dem Jubel der darbenden Bevölkerung - die Staatsspitze absetzte; den putschenden Militärs wurden rote Nelken in die Gewehrläufe gesteckt. Der Putsch verlief weitgehend unblutig, Portugal wurde demokratisch.

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Arabischer Frühling 2010/11

Den Beginn des Arabischen Frühlings markierte ein singuläres Ereignis in Tunesien 2010. Behörden schlossen mehrmals den Stand eines Gemüsehändlers und beschlagnahmten seine Waren, er wurde geschlagen. Wegen der Demütigung und der Perspektivlosigkeit zündete sich der Händler an - ein Fanal für Proteste, die rasch auf die Nachbarländer Tunesiens übergriffen.

Weniger die Demokratiedefizite, sondern vor allem Korruption, Arbeitslosigkeit und Preissteigerungen brachten die Menschen in Wallung. Schon in den Jahren vor dem Arabischen Frühling waren Lebensmittel drastisch teurer geworden. Nach einer Erholung der Preise nach der globalen Finanzkrise (2007/08), spitzte sich die Lage erneut zu: Der weltweite Nahrungsmittel-Preisindex der Vereinten Nationen (FAO-Index) verzeichnet für Februar 2011 ein historisches Hoch.

Die Massenproteste in Ländern des Maghrebs, des Nahen und des Mittleren Ostens entwickelten sich unterschiedlich. Teils ebbte der Aufruhr ab, etwa nach Zugeständnissen der Regierungen wie in Jordanien oder nach Repressionen wie in Bahrain. In Libyen und Syrien mündeten die Demonstrationen in Bürgerkriege, in Ägypten stellte nach einiger Zeit erneut das Militär den Staatschef. Sozioökonomisch verbessert hat sich in den anderen betroffenen Ländern wenig. Auch die Lebensmittelpreise zogen nach einer zwischenzeitlichen Senkung wieder an.

Protest muss organisiert werden

Miserable sozioökonomische Entwicklungen alleine machen noch keinen Aufstand, eine Zwangsläufigkeit gibt es nicht. So lösen etwa prekäre Zustände im afrikanischen Königreich Lesotho, wo fast drei von vier Bürgern in Armut leben, bisher keine Rebellion aus. Auch im kommunistischen Nordkorea kann sich das Regime trotz Hungersnöten anscheinend sicher fühlen.

In beiden Fällen fehlt ein wichtiger Faktor - jemand, der plant und organisiert, jemand der die Menschen auf die Straße bringt: "Es gibt die Regel: Eine soziale Schieflage alleine reicht nicht dafür aus, dass die Menschen auf die Straße gehen", sagt Simon Teune vom Berliner Institut für Protest- und Bewegungsforschung: "Voraussetzung für Protest sind Organisationsstrukturen".

So war es vor der Französischen Revolution, als der dritte Stand die Machtprobe suchte und die Nationalversammlung begründete. So war es 1911 in Wien, als die Sozialdemokraten die Arbeiter zur Großkundgebung wegen der Teuerungen zusammenriefen. Die Nelkenrevolution gelang, weil sich innerhalb der portugiesischen Armee ein Netzwerk entwickelt hatte. Und bei den Aufständen während des Arabischen Frühlings nutzten in den unterschiedlichen Ländern bereits bestehende Gruppen den gärenden Unmut der Straße, wie etwa die Muslimbrüder in Ägypten.

Die aktuellen Proteste in Iran haben sich ähnlich entwickelt. Dort wirkt Protestforscher Teune zufolge auch der Protest zur Präsidentenwahl 2009 nach: "Zum einen können früher entstandene Vernetzungen nach einer ruhigen Phase reaktiviert werden. Zum anderen gibt es einen motivierenden Bezugspunkt."

Wie sich die Lage in Teheran und anderswo im Land entwickelt, ist bislang offen. Die Iraner, die sich derzeit erheben, sind aus unterschiedlichen Gründen aktiv. Immerhin haben sie eine Gemeinsamkeit: Sie eint die Gegnerschaft zum herrschenden Regime.

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