Volksabstimmung über Stuttgart 21:Applaus von der Opposition

Rein rechnerisch haben sie kaum eine Chance. Doch die Stuttgart 21-Gegner glauben: Da geht vielleicht doch was. Dabei irritiert Ministerpräsident Kretschmann vor allem seine eigene Partei mit der Ankündigung, den Bahnhofsbau nach dem Volksentscheid notfalls selbst durchzusetzen.

Roman Deininger

Winfried Kretschmann erhielt donnernden Applaus am Mittwoch im Stuttgarter Landtag, es donnerte aus allen Ecken des Saales, nur aus der grünen nicht. Die Fraktionskollegen des Ministerpräsidenten schienen nicht ganz zu glauben, was sie da eben gehört hatten. Zumindest dieses Gefühl teilten sie mit der jubilierenden CDU und FDP. Aber sie lagen schon richtig: Kretschmann hatte tatsächlich gesagt, dass er das Baurecht der Bahn bei Stuttgart 21 nötigenfalls durchsetzen werde - selbst wenn die Bahnhofsgegner bei der Volksabstimmung am Sonntag eine einfache Mehrheit bekommen und nur am Quorum scheitern.

Projektion zur Volksabstimmung

Dabeisein ist alles: Werbung auf der Fassade des Neuen Schlosses in Stuttgart. 

(Foto: dpa)

Bisher hatte er für diesen Fall immer bloß beteuert, dass die "Verfassung gilt", und das auch nur "erst mal". Als der Tiefbahnhofs-Fanclub im Plenum sich langsam beruhigte, sagte Kretschmann: "Wenn man einen so frenetischen Applaus von der Opposition bekommt, muss man sich fragen, ob man vielleicht etwas falsch gemacht hat."

Die Frage dürfte freilich nicht nur den Ministerpräsidenten noch beschäftigen. Die gefühlte große Mehrheit der Protestbewegung gegen Stuttgart 21 bringt wenig Verständnis dafür auf, dass Kretschmann kurz vor dem Bürgervotum am Sonntag den Einsatz derart erhöht hat.

Denn obwohl sich bei der Briefwahl eine unerwartet hohe Wahlbeteiligung abzeichnet, gilt das von der Verfassung vorgeschriebene Quorum weiter als kaum erreichbar: Gültig wäre ein Volksentscheid gegen den Bahnhof nur dann, wenn mindestens ein Drittel aller Stimmberechtigten des Landes für den Ausstieg aus dem Projekt stimmen. Das wären 2,5 Millionen Menschen. Bei der Landtagswahl im März kamen die Grünen auf 1,2 Millionen Stimmen, die Linke auf 140 000 - als einzige Parteien, die sich gegen Stuttgart 21 ausgesprochen hatten.

Die Bahnhofsbefürworter liegen in Umfragen vorn

In den Umfragen liegen die Bahnhofsbefürworter jetzt auch konstant vorne, zuletzt mit 55 zu 45 Prozent. Der Kontra-Wahlkampf allerdings war von deutlich mehr Schwung und Leidenschaft getragen als die Pro-Kampagne. Ersterer roch nach Montagsdemo, zweitere nach Junger Union. Sogar Wolfgang Dietrich, der Stuttgart-21-Projektsprecher, sagt: "Es fällt natürlich leichter, Menschen zu mobilisieren, die gegen etwas sind." Deshalb strahlen die Mitglieder der Dagegen-Fraktion dieser Tage auch geflissentlich neue Zuversicht aus: "Da geht vielleicht doch noch was."

Die Kritiker haben die Tiefbahnhofspläne im Endspurt regelrecht ins Trommelfeuer genommen, nicht nur wegen der angeblich bevorstehenden Kostenexplosion und der mutmaßlichen Schummeleien der Bahn beim Stresstest: Die grüne Landtagsfraktion fürchtet, Stuttgart 21 verletze die UN-Behindertenrechtskonvention; die Lokführergewerkschaft GDL fürchtet, das Gefälle der Gleise gefährde die Sicherheit ihrer Lokführer; die Parkschützer fürchten sogar, die Polizisten im Land könnten bei einem Weiterbau und dann zu erwartenden Großeinsätzen um ihren wohlverdienten "Weihnachtsurlaub 2011" gebracht werden.

In der Landesregierung wird es einen Verlierer geben

Die Verfechter der Bahnhofsvergrabung teilen dann selbstredend umgehend mit, wie vorteilhaft Stuttgart 21 doch besonders für behinderte Menschen, Lokführer und Polizisten sei.

Wie weit der Weg zum Quorum für die Bahnhofsgegner wirklich ist, hat man an der Hochschule Kehl errechnet. Bei einer Wahlbeteiligung von 40 Prozent müssten demnach am Sonntag 83 Prozent aller Teilnehmer gegen Stuttgart 21 stimmen. Und selbst wenn mit 60 Prozent das Plateau der Beteiligung an der Landtagswahl erreicht würde, bräuchte es immer noch gut 55 Prozent der Stimmen für den Ausstieg aus der Finanzierung.

Zwar deutet sich auch fern der Landeshauptstadt erstaunliche Anteilnahme an den Stuttgarter Bahnhofswehen an. Dass die Bürger im Schwarzwald oder am Bodensee am Sonntag jedoch tatsächlich in Scharen die Stimmlokale stürmen, können sich viele nicht recht ausmalen.

Tübingens OB akzeptiert das Ergebnis "nicht in jedem Fall"

Der Teil der Protestbewegung, der nicht hauptberuflich das Land regieren muss, sorgt deswegen schon mal vor. Am Donnerstag lief eine TV-Debatte im SWR, den zentralen Beitrag lieferte Boris Palmer: "Ich akzeptiere das Ergebnis nicht in jedem Fall." Der grüne Tübinger Oberbürgermeister argumentierte, dass "die Politik" auch über eine einfache Mehrheit gegen Stuttgart 21 "nicht hinweggehen" könne. Die Demonstranten auf der Straße sehen das eh so.

Palmer und Kretschmann spielen gern taktisches Doppel, um Protest und Staatsräson zugleich zu bedienen. Nach Sonntag könnten die inneren Spannungen bei den Grünen aber sichtbarer werden als je zuvor, genau wie jene in der grün-roten Koalition - obwohl sich im Wahlkampf eh niemand Mühe gab, die zu kaschieren.

Die SPD ist für Stuttgart 21, und mutige Experten wie der Mannheimer Politikprofessor Thomas König glauben sogar, dass die Roten früher oder später "die Hand zu einer Großen Koalition" mit der CDU ausstrecken werden. Sicher ist: Am Sonntagabend wird es in der Landesregierung einen Verlierer geben.

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