Videobeweis:Tausend Augen

Der Mann, der eine Frau in einem U-Bahnhof brutal getreten hat, ist gefasst - auch dank der Videoaufnahmen. Doch Forderungen nach mehr Kameras sind voreilig.

Von Joachim Käppner

Ein lange verkannter Film des berühmten, aus dem Exil heimgekehrten Regisseurs Fritz Lang von 1960 heißt "Die 1000 Augen des Dr. Mabuse". Es ist eine Parabel auf das Zeitalter alles erfassender Diktaturen, vor allem den Nazistaat: Der Verbrecher Mabuse hat ein ehemals von der Gestapo genutztes Luxushotel mit Kameras zur Stätte totaler Überwachung ausgebaut, daher die tausend Augen. Solche Utopien muten heute rührend an. Über Englands Städte wachen Zehntausende Augen, die Linsen des staatlich-privat vernetzten Videosystems CCTV. Per Gesichtserkennung lässt sich ein Mensch aus der Besuchermasse eines Fußballstadions herausfiltern.

Die Bahn will Sicherheitspersonal mit Bodycams ausrüsten.

Die Bilder einer Kamera aus einem Berliner U-Bahnhof sind in Deutschland nun Tausende Mal angeschaut worden: Ein Mann tritt eine nichtsahnende Frau in den Rücken, sie stürzt die Treppe hinunter und bleibt verletzt liegen. Obwohl die Kriminalität nicht annähernd so stark steigt, wie viele Menschen glauben, muten die wenigen Filmsekunden bereits an wie die düstere Ikonografie einer Epoche wachsender Ängste und des Kontrollverlustes. Aber auch dank dieser Aufnahmen ist der mutmaßliche Täter jetzt gefasst worden; dank ihrer ist der Ablauf des Verbrechens eindeutig.

Der Verlust an Privatsphäre ist inzwischen ungeheuerlich

Früher war es die Videoüberwachung selbst, die Angst auslöste. Manche Datenschützer lehnten sie ab: Die Freiheit des Individuums sei nur noch eine Fiktion, wenn der Staat jedem seiner Schritte zusehe. So weit ist es nicht gekommen. Und natürlich ist es besser, wenn Gewaltverbrechen wie jenes in Berlin aufgeklärt werden, was ohne das Video unwahrscheinlich wäre. Das deutsche Datenschutzgesetz ist relativ streng, Videokameras müssen kenntlich gemacht werden, die Interessen der Kamerabetreiber jene der Beobachteten überwiegen. Die engen Löschfristen führten sogar dazu, dass die Videobilder einer Verkehrskamera, die nach dem Mord an einer Freiburger Studentin den Tatverdächtigen zeigten, beinahe nicht mehr verfügbar gewesen wären.

Zu viel Datenschutz also? So reden jetzt viele, so klingen auch die Pläne der Bundesregierung zur Ausweitung der Videoüberwachung. Doch wie etliche Befürchtungen überzeichnet waren, sind auch übertriebene Erwartungen nicht gerechtfertigt. Von einem gewissen Abschreckungseffekt abgesehen, können elektronische Augen Verbrechen nicht verhindern, aber immerhin bei ihrer Aufklärung helfen. Und was die Abschreckung betrifft, gibt es in Großbritannien örtliche Erfolge, die aber bei Weitem nicht so flächendeckend sind, wie es das orwellhafte CCTV-System ist (der britische Schriftsteller George Orwell hatte in seinem Roman "1984", in dem sogar eine Gedankenpolizei umgeht, vor der totalen Überwachung gewarnt). Straßenkriminalität und Vandalismus bleiben in London ein Problem; und gegen Selbstmordattentäter helfen ohnehin keine Kameras.

Auch Privatleute zeichnen mit ihren Handys Mitmenschen auf, überwachen Türen per Video oder filmen die Straße mit der Kamera auf dem Armaturenbrett; so vieles geht technisch, so viel ist möglich. Durch die Luft schwirren Fotodrohnen; manche installieren heimlich "Nanny Watch"-Linsen im Regal, um den Babysitter zu kontrollieren. Vieles davon ist illegal, auch manches, was der Staat unternimmt. So untersagte das Oberverwaltungsgericht Münster der Polizei, eine friedliche Demonstration gegen Atommülltransporte zu filmen und die Aufnahmen zu speichern.

In der digitalen Welt führt die Privatheit ein Rückzugsgefecht, der Verlust an Privatem ist ungeheuerlich. Die Datenschützer wirken wie einst die Deichbauer, die mit Wällen aus Lehm die Springflut aufzuhalten versuchten. Es ist nicht unmöglich, aber sehr, sehr schwer. Und doch erscheint der Gedanke, noch mehr Überwachung bedeute automatisch mehr Sicherheit, sehr verführerisch, weswegen nach jedem schlimmen Verbrechen, jedem Terrorakt sogleich nach neuen Befugnissen des Staates gerufen wird, als ließe sich jede Gefahr verhindern, gäbe man der Polizei nur genug Rechte.

Es kann hilfreich, ja nötig sein, gewisse Plätze, Straßen und Verkehrsmittel zusätzlich durch Kameras zu überwachen. Wo man die Grenze zieht, damit der Staat eben nicht auf "gläserne Bürger" blickt, ob und wann künftig gar Systeme der Gesichtserkennung eingesetzt werden dürfen, das bleibt eine schwierige Abwägung. Viel wäre schon geholfen, befänden sich die bestehenden Überwachsysteme nicht oft in desolatem Zustand. Und kein Kamerasystem der Welt kann so viel Sicherheit schaffen wie eine personell gut ausgestattete Polizei. Hier aber haben Bund und Länder viel zu lange gespart.

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