Vergleich von EU und Römischem Reich:Vor dem Untergang

Forum Romanum mit Kolosseum in Rom, 1936

Blick vom Forum Romanum Richtung Kolosseum in Rom, 1936. Rechts: der Konstantinbogen.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)
  • Der Zusammenhalt und Wert eines politischen Gemeinwesens liegt in der Kraft seiner Identität begründet, sagt der Historiker David Engels.
  • Das jetzige Europa habe genau deshalb ein existenzielles Problem.
  • In seinem Buch skizziert Engels Parallelen zwischen der Krise der Europäischen Union und dem Fall der Römischen Republik.

Von Olaf Rader

Auch wenn viele, die gelegentlich die Geschichte durchforsten, es nicht wahrnehmen wollen: Es gibt sie, die historischen Parallelen. Und das Tollste daran ist, man kann sogar etwas aus ihnen lernen: Russlandfeldzüge waren zu allen Zeiten keine gute Idee. Geiz ist nicht geil, denn er ruiniert Infrastrukturen, Gesundheitssysteme oder ganze Armeen.

Märkte regeln eben doch nicht alles selbst, was ökonomisch zu regeln wäre. Treten bei der Verteilung der Erträge von Volkswirtschaften zu große Ungleichheiten und damit Ungerechtigkeiten auf, ist schnell der innere Frieden einer Gesellschaft hinüber und die Spannungen entladen sich in mitunter enorm destruktiven Sozialkämpfen. Der Beispiele gäbe es Dutzende.

Ein in der Geschichte häufig beobachtetes Phänomen

Etwas differenzierter sind die historischen Parallelen in einem neuen Buch des in Brüssel lehrenden Althistorikers David Engels. Er vergleicht das spätrepublikanische Rom mit der Europäischen Union und fahndet nach gemeinsamen Krisensymptomen. Im Zentrum seiner Überlegungen steht das zweifellos zutreffende und schon häufig in der Geschichte beobachtete Phänomen: Geht einer Gemeinschaft ihre spezifische kulturelle Identität verloren, dann ist ihr Zusammenhalt in Gefahr.

Interessiert sich diese Gemeinschaft dann nicht einmal mehr für die Werte, die sie von anderen Gemeinwesen abgrenzen, ist sie dem Untergang geweiht. Späteren Historikergenerationen dient sie dann nur noch als Rätselstück: Wie konnte solch eine große Kultur so einfach untergehen?

Die historischen Beispiele für eine derartige Konstellation sind leicht zu finden. Das klassische Athen etwa konnte sich des Ansturms aus dem Perserreich nur erwehren, weil es sich selbst um Götter, Herkunft und Werte scharte und später diesen kraftvollen inneren Zusammenhalt sogar für die Bildung eines eigenen Reiches zu nutzen verstand.

Dass sich im Gallien des 5. Jahrhunderts und auch anderswo im Imperium Romanum niemand mehr so richtig für die Belange des Gemeinwesens im weiteren Sinne interessieren wollte, führte ganz zwangsläufig zum Zusammenbruch der Westhälfte des Reiches.

In seiner berühmten Auflistung der vielfältigen Ursachen des Untergangs des Römischen Imperiums hatte Alexander Demandt vor Zeiten schon mehr als zweihundert Gründe genannt, von denen Badewesen, Feinschmeckerei oder Rentnergesinnung eher marginale Wirkungen entfaltet haben dürften. Kulturelle Nivellierung und Individualisierung sowie Kulturneurose, Gräzisierung oder Willenslähmung sind hingegen Schlagworte, die der Idee vom Verlust der kulturellen Identität schon deutlich näherkommen.

Wie nun Engels für seine Parallelbetrachtung der Geschichte herausstellt, liegen der "Zusammenhalt und Wert eines politischen Gemeinwesens in der Kraft seiner Identität begründet". Unser jetziges Europa habe genau deshalb ein existenzielles Problem, so der Autor weiter, weil es "letztlich nicht die Wirtschaftskrise" sei, "welche die Existenz der Europäischen Union" gefährde, sondern die seit Jahren latent schwelenden und nun angesichts der verbissenen Verteilungskämpfe stärker denn je hervorbrechenden Identitäts- und Sinnkrisen unserer Zivilisation".

Zu dieser Beobachtung gesellt Engels die These, dass "die gegenwärtige Identitätskrise der EU kein einmaliges geschichtliches Ereignis" sei.

Die alten Griechen waren nicht politisch korrekt

Identitätsfragen haben schon Autoren der Antike wie Polybios, Livius, Cicero oder Tacitus beschäftigt. Engels Ziel: "Analogien zwischen der gegenwärtigen Lage der Europäischen Union und dem Fall der Römischen Republik zu skizzieren und die sich daraus möglicherweise ergebenden Folgen für unsere Zukunft zu diskutieren."

Dieses Vorhaben gelingt ihm ausgesprochen gut. Engels argumentiert überlegt und abgewogen, gelegentlich unter Hinweis auf die komparatistischen Methoden von Vico, Spengler oder Toynbee. Er berichtet von Vulgärlatein und Vulgärenglisch; er beschreibt technokratische Verwerfungen als Gefahren erster Ordnung für die demokratischen Strukturen in Vergangenheit und Gegenwart.

Den Verweis der Europäischen Union auf die Geografie als einigendes Band betrachtet er als eine "intellektuelle Kapitulation". Manches wirkt etwas bemüht, etwa wenn er auf Ehe und Familienbeziehungen in Rom und der EU zu sprechen kommt. Die heutigen hohen Scheidungsraten sind ja nicht Ausdruck moralischen Verfalls, sondern belegen eher die gewandelten Vorstellungen bei der Gestaltung von Partnerschaft.

In der Hauptsache jedoch trifft sein Buch völlig einleuchtende Aussagen. Ein Beispiel: Im Juni 2004 haben 23 der damals 25 europäischen Außenminister entschieden, ein Zitat aus einer bei Thukydides überlieferten Rede des Perikles, das bis dahin wie ein Motto Bestandteil des europäischen Verfassungsentwurfs gewesen war, zu streichen. Es lautet: "Unsere Verfassung heißt Demokratie, weil die Macht in den Händen nicht einer Minderheit, sondern einer größtmöglichen Menge liegt."

Blick auf die Schweiz

Nun ist es eine Binsenweisheit, dass die Athener Frauen, Fremden und Sklaven das Bürgerrecht vorenthielten, diese somit auch nicht mit abstimmen durften. Historische Gesellschaften waren eben nicht so gut, wie wir es heute gerne hätten. Doch ohne Zweifel liegt in den attischen Verhältnissen der perikleischen Zeit eine der Wurzeln moderner politischer Verfasstheit.

Der antike Ursprung der Demokratie, wie wir sie heute verstehen, wurde jedoch mit dieser Streichung als politisch unkorrekt deklariert und führte im Grunde zu einer identitätsspezifischen Selbstkastration. Doch was haben die EU-Parlamentarier mit dem Streben nach absoluter kultureller und geschichtlicher Neutralität eigentlich gewonnen? Nichts! Außer vielleicht der Folge, dass es nun noch weniger an europaeigenem Zusammenhalt gibt.

Diese moderne europäische Zutat ist etwas, das den alten Römern noch fehlte und vielleicht überhaupt ohne historische Parallele ist: Wenn schon in den Untergang, dann bitte schön politisch korrekt.

Die Prognose, die durch die Lektüre des Buches klar hervortritt, ist im Grunde ganz einfach zu formulieren: Nur wenn es der EU und ihren Bürgern gelingt, ein Bekenntnis zu einer gemeinsamen Kultur und Geschichte mit all ihren Höhen und Tiefen abzulegen, und nur wenn das ohne ein ständiges Innehalten um vermeintlicher politischer Korrektheit willen geschieht, wird sie überleben. Gelingt das nicht, dann wird sie als Gemeinschaft untergehen.

Um gemeinschaftsstiftende Ideen zu erkennen, müsste man aber gar nicht bis in das alte Rom zurückschauen, denn eine Lösung bietet eine Parallele direkt im europäischen Haus selbst.

Die Worte Schillers

Als die Eidgenossen aus einem Gebiet, in dem die Menschen vier Sprachen benutzten und im Grund fast jedes Tal ein kulturelles Eigenleben führte, ein Gemeinwesen schmieden wollten, da hatten sie einen genialen Einfall: den Rütli-Schwur. Dieser Mythos wurde zum Identitätsgenerator einer ganzen Nation, und dabei spielte es gar keine Rolle, ob der Eid tatsächlich jemals geschworen worden ist.

Schiller legt der Schwurgemeinschaft Worte in den Mund, die auch Europa gut anstehen würden: "Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern, in keiner Not uns trennen und Gefahr." Ob sich allerdings alle Parallelen zwischen der EU und der späten Römischen Republik, die Engels Werk bietet, genauso zum Vergleich eignen, mag dahingestellt bleiben. Aber dass dieses intelligente und pfiffige Buch Anstöße zum Nachdenken über unsere eigene Zukunft gibt, steht völlig außer Zweifel.

David Engels: Auf dem Weg ins Imperium. Europa Verlag, 2014. 544 S., 29,99 Euro.

Olaf B. Rader lehrt Kulturgeschichte an der Humboldt-Universität. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Monumenta Germaniae Historica.

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